Tichys Einblick
Fordern und fördern

American Dream 2.0 – die Story des J.D. Vance

Wenn man es genau nimmt, gibt es zwei „Hillbilly-Elegies“. Die Hollywood Verfilmung mit Glenn Close und das Buch von J.D. Vance. Wer den Film sieht, bekommt einen Eindruck von der prekären Familienstruktur, in der Trumps Running Mate aufwuchs. Aber nur wer das Buch liest weiß, welche spannenden Schlussfolgerungen er politisch daraus zieht.

2016 waren die amerikanischen Linken geschockt. Ausgerechnet Arbeiter, also eine Wählerschicht, die man sicher in der Tasche wähnte, hatten Trump zum Sieg verholfen. Die Partei hatte sich offensichtlich von ihren Stammwählern entfernt. Wie konnte das passieren? Das Buch „Hillbilly-Elegie“, erschienen im Wahlkampfsommer 2016, war binnen Wochen auf den Bestsellerlisten und laut New York Times eines der sechs besten Bücher um zu verstehen, warum Trump gewonnen hatte.

Hieß es im Juni 2016 noch „J.D. Wer?“, war er plötzlich „Der Bestsellerautor Vance“ und seine Memoiren „eine mitfühlende, anspruchsvolle soziologische Analyse der weißen Unterklasse“, die dazu beigetragen hätte, die „Politik der MAGA [Make America Great Again – Anm. d. Redaktion] Rebellion voranzutreiben, und somit den Aufstieg von Donald J. Trump“. Weiter hieß es, etwas zähneknirschend, „durch die Kombination aus reflektierter Analyse mit eigenen Erfahrungen hat Vance versehentlich ein zivilisiertes Nachschlagewerk für eine unzivilisierte Wahl geliefert, und er hat dies in einem Vokabular getan, das sowohl für Demokraten als auch für Republikaner verständlich ist.“

Dabei ist es viel zu kurz gegriffen, „Hillbilly-Elegie“ als MAGA-Leitfaden zu definieren. In erster Linie ist es ein faszinierendes und unterhaltsames Buch, was das Leben einer Hillbillyfamilie (das deutsche Hinterwäldler trifft es vielleicht am besten) aus Kentucky und Ohio beschreibt. Manche würden sagen White Trash, aber Vance zeichnet seine Familie mit viel Liebe, er schaut zwar genau hin, aber beschreibt ohne abfällig zu werden.

Aufgewachsen in Middletown in Ohio, einer Stadt, die bessere Tage längst hinter sich hatte, war seine Jugend von Gewalt und schrägen Sonderlingen geprägt. Auch wenn seine Großeltern ihm Halt und Liebe gaben, ihn immer wieder auffingen, wenn er durch die wechselnden Männer und die Drogensucht der Mutter ins Straucheln geriet, entsprachen sie nicht den klassischen Omas und Opas aus dem Bilderbuch.

„Mitte der sechziger Jahre war Papaws Sauferei zur Gewohnheit geworden. Mamaw begann, sich von der Außenwelt abzuschotten. Nachbarskinder rieten dem Postboten, sich von der »bösen Hexe« auf der McKinley Street fernzuhalten. Als der Postbote diese Warnung ignorierte, traf er auf eine dicke Frau mit einer überlangen Mentholzigarette auf der Unterlippe, die fluchte, dass er auf ihrem Grundstück nichts zu suchen habe. Der Begriff »Messie« war damals noch nicht verbreitet, hätte aber ausgezeichnet auf Mamaw gepasst, deren Sammelwut immer schlimmer wurde, je mehr sie sich zurückzog. Der Müll stapelte sich im Haus.“

Trotz alledem waren es seine Mamaw und sein Papaw, die glaubten, dass harte Arbeit mehr zählt als alles andere. „Werd‘ bloß nicht so ein beschissener Verlierertyp, der denkt, dass sich alles gegen ihn verschworen hat. Alles, was du dir vornimmst, kannst du erreichen“, fauchte ihn seine Großmutter oft an, wenn er als Kind aufgeben wollte.

Die wahre Geschichte von Trumps Running Mate
J.D. Vance: »Im Kern bin ich ein Hillbilly«
Diese Einstellung war es, die ihm den Weg aus der Unterschicht zeigte. J.D. Vance hat hart gearbeitet, sich nie den Umständen ergeben. Er hätte alle Ausreden der Welt gehabt, abhängig vom sozialen System und seinen Zuwendungen zu werden. Stattdessen lebt er den amerikanischen Traum. Heute gestaltet er Politik, statt über Politiker zu schimpfen, bisher als Senator von Ohio und demnächst vielleicht als Vizepräsident der USA.

Wie kommt es nur, wundern sich viele Democrats, dass ein Mann, der das harte Leben der Arbeiter doch so gut kennt, seinen Weg mit den Republikanern geht und nicht mit ihnen? Wer „Hillbilly-Elegie“ liest, versteht es. Vance hält deren Politik der Gießkanne, vergleichbar mit der deutschen Sozialpolitik der Ampel, für grundlegend falsch. „Sie haben den Bezug zu den echten Menschen verloren, die zu treffen sie sich scheuen, wie der Teufel das Weihwasser. Lieber verlassen sie sich auf Studien, die ebenfalls von Menschen gemacht werden, die nicht mit diesen Menschen an einem Tisch sitzen möchten.“

Er weiß, dass Politiker „manchmal Dinge tun, um Leuten wie mir zu helfen, ohne Leute wie mich wirklich zu verstehen“. In der Zeit als er im Drittjob für einen Senator in Ohio arbeitete, diskutierten die Abgeordneten dort über eine Verschärfung der Richtlinien von sogenannten Überbrückungs- oder Kurzkrediten. Sie hielten das für eine gute Idee, um Arbeiter zu schützen.

J.D. Vance war zeitgleich auf genau solch einen Kredit angewiesen. Er wusste, dass der Scheck, den er freitags bei seinem Vermieter abgab, nicht gedeckt war. Am selben Tag sollte er aber seinen Gehaltsscheck bekommen, den er dann abends bei der Bank einreichen wollte. Ein Leben auf der Kippe, wie es viele Amerikaner führen. „Doch nach einem langen Arbeitstag im Senat vergaß ich, meinen Gehaltsscheck mitzunehmen. Erst als ich in meiner Wohnung war, bemerkte ich den Fehler; die Angestellten der Parlamentsverwaltung waren schon ins Wochenende gegangen. An diesem Tag erlaubte mir ein Drei-Tage-Kredit, der mich ein paar Dollar Zinsen kostete, die viel höheren Gebühren für das Platzen eines Schecks zu vermeiden.“ Eine Situation, die keiner der Abgeordneten kannte.

Für Vance war die Unterschicht das echte Leben, keine Theorie. Ein weiteres Beispiel, wie weit sich „gutmeinende“ Politik der Democrats in seinen Augen vom Menschen entfernt hat, ist eine vielbeachtete Studie über die weiße Arbeiterschicht, die im Wahlkampf 2012 herauskam. Das Public Religion Institute, ein linksgerichteter Thinktank, verkündete darin, dass weiße Arbeiter mehr Stunden pro Woche arbeiteten als Weiße mit Universitätsabschluss.

„Diese Aussage ist, wie man heute weiß, nachweislich falsch. Man stützte sich bei dieser Studie auf telefonische Umfragen. Sie haben Leute angerufen um sie zu fragen, wie sie die Sache sehen. Das Einzige, was dieser Bericht beweist, ist, dass viele Menschen lieber über die Arbeit reden, als sie tatsächlich zu machen.“

Aus eigener Erfahrung weiß er, dass viele amerikanische Arbeiter den Eindruck haben, dass Sozialhilfeempfänger fürs Nichtstun bezahlt werden. Aber nicht nur das. In der weißen Arbeiterschicht ist eine Bewegung entstanden, die die Gesellschaft und die Regierung für alle Probleme verantwortlich macht, und diese Bewegung gewinnt mit jedem Tag neue Anhänger.

Das System ermutigt die Menschen zur Faulheit. „Dreißig Prozent der jungen Männer in meiner Gegend arbeiteten weniger als zwanzig Stunden in der Woche. Trotzdem war sich keiner seiner eigenen Faulheit bewusst.“ Ganz im Gegenteil. „Fleißige Leute wurden dafür ausgelacht, dass sie jeden Tag zur Arbeit gehen!“

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Eine seiner Nachbarinnen war ihr ganzes Leben lang Sozialhilfeempfängerin: „Aber wenn sie nicht gerade meine Großmutter bat, ihr den Wagen zu leihen oder Lebensmittelmarken mit Aufschlag gegen Bargeld zu tauschen, schwafelte sie endlos über die Bedeutung von Fleiß. »So viele Leute missbrauchen das System, dass es für die arbeitende Bevölkerung schwer ist, die Unterstützung zu bekommen, die sie brauchen«, sagte sie dann. Das war das Konstrukt, das sie sich im Kopf zusammengebastelt hatte: Die meisten Empfänger von Sozialleistungen waren elende Schnorrer, aber sie – die nicht einen Tag in ihrem Leben gearbeitet hatte – war natürlich eine Ausnahme.“

„Hillbilly-Elegie“ ist liebevoll, aber auch brutal ehrlich. Vance beschreibt nicht nur den Untergang der amerikanischen Arbeiterschicht im Rust Belt, sondern nimmt uns mit in ihre Häuser, in ihren Alltag. Die Gegend von New York bis zum Mittleren Westen, in der die ehemals blühende Industrie vielerorten nur noch aus rostigen Ruinen besteht, macht es den Menschen nicht leicht, gut zu leben.

Vance schöpft aus eigener Erfahrung, wenn er beschreibt, wie steinig der Weg nach oben ist, wie es sich anfühlt, wenn man die Regeln der Menschen, die oben sind, nicht kennt. „Ich war immer davon ausgegangen, dass man online nach Stellenausschreibungen sucht, wenn man Arbeit braucht. Erfolgreiche Menschen nehmen an einem ganz anderen Spiel teil. Sie vernetzen sich. Sie schicken dem Freund eines Freundes eine Mail, damit sie ganz bestimmt die verdiente Aufmerksamkeit bekommt. Sie bitten ihre Onkel, alte Studienfreunde anzurufen. Sie haben Eltern, die ihnen sagen, was sie anziehen, wie sie sich benehmen, mit wem sie sich unterhalten sollen. Das bedeutet nicht, dass die Studienleistungen oder die Vorstellungsgespräche selbst irrelevant sind. Aber das, was Wirtschaftswissenschaftler soziales Kapital nennen, ist enorm wertvoll. Die Netzwerke von Menschen und Institutionen, die uns umgeben, haben echten wirtschaftlichen Wert. Sie verbinden uns mit den richtigen Leuten, stellen sicher, dass wir gute Chancen haben, und liefern wertvolle Informationen. Wenn wir sie nicht haben, sind wir auf uns allein gestellt.“

Kindheit prägt. Nicht nur in Bezug auf die Karriere. Ihm selbst fiel es lange Zeit schwer, zwischenmenschliche Konflikte einfach auszuhalten. Beziehung hatte er in seiner Kindheit nicht wirklich gelernt. Seine Mutter zog ständig um, rannte weg, schleppte neue Männer an. Auch die Großeltern lebten – trotz aller Zuneigung – getrennt. Die Zündschnur in seinem Umfeld war kurz. Die Beziehung zu seiner Frau Usha wurde in seinem Leben auf mehr als eine Probe gestellt. Es dauerte, bis er all das in der Kindheit Erlernte wieder verlernt hatte. Vielleicht ist es wie bei einem trockenen Alkoholiker.

„Manchmal hilft es zu wissen, dass ich, statistisch gesehen, im Gefängnis sitzen oder mein viertes uneheliches Kind zeugen müsste. Und manchmal macht es die Sache schwerer – Ehekrach und Zerrüttung wirken dann wie ein Schicksal, dem ich nicht entkommen kann. In meinen schlimmsten Momenten bin ich überzeugt, dass es keinen Ausweg gibt, dass meine alten Dämonen, sosehr ich mich auch gegen sie wehre, genauso genetisch sind wie meine blauen Augen und braunen Haare.“

„Hillbilly-Elegie“ macht dieses Leben greifbar. Der Leser taucht ein, versteht, hasst und verzeiht. Der Zusammenhalt der Familie ist großartig, die Konflikte erschreckend. Auf Netflix läuft die Hollywood Version. Enttäuschend geradezu, auch wenn der Film für zwei Oscars nominiert wurde, darunter Glenn Close in ihrer Rolle als Mamaw. Die Lektüre von „Hillbilly-Elegie“ kann durch keinen Film ersetzt werden!

Was können wir von J.D. Vance erwarten, sollte er der nächste Vizepräsident der USA werden? Auf alle Fälle keine Sozialpolitik nach dem Gießkannenprinzip. Das Leben in der Hängematte könnte für einige Amerikaner unbequem werden. Fordern und fördern ist sein Motto. Er wird den Arbeiter nicht mehr für den Schmarotzer aufkommen lassen. Selbstbestimmung und Selbstverantwortung ist das Ziel, harte Arbeit und Disziplin der Weg. Im Grunde genommen genau die Werte, die Amerika einst groß gemacht haben.


J.D. Vance, Hillbilly-Elegie. Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in der Krise. YES Publishing, Paperback, 304 Seiten, 18,00 €


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