Am Schluss hatte Joe Biden keine Chance mehr, die Wahl im November zu gewinnen. Jeder öffentlich geäußerte Zweifel an seiner verbleibenden Lebenskraft kostete den amtierenden Präsidenten der USA Stimmen. Allzumal diese Zweifel aus den eigenen Reihen kam. Etwa von der denkbar mächtigsten Stimme innerhalb der Demokraten, dem ehemaligen Präsidenten Barack Obama. Ob Kamala Harris siegt, zeigt sich im November. Biden hätte schon im Juli verloren gehabt.
Olaf Scholz ist elf Jahre jünger, als Biden es war, als er Staatsoberhaupt des mächtigsten Landes der Welt wurde. Alter ist nicht das Problem des Hanseaten. Schon eher die Umfragen. Da mal 20 Prozent, mal 17 Prozent, mal weniger als 25 Prozent. Alle zwei Tage erscheinen neue Zahlen. Es ist ermüdend, sie zu zitieren. Zumal ihre Botschaft klar ist: Die Deutschen halten Olaf Scholz für einen windigen Politiker mit einer katastrophalen Bilanz. Im Cum-Ex-Skandal im richtigen Moment das Gedächtnis verloren. Die Wirtschaft schrumpft, die Arbeitslosigkeit wächst, während die Regierung Ausländer ins Land holt, weil es an Arbeitskräften mangele. Es stellt keine allzu komplexe Aufgabe dar, herauszufinden, woher dieser fatale Eindruck der Deutschen von ihrem Kanzler kommt.
Trotzdem bleibt Scholz Kanzler und Spitzenkandidat seiner Partei. Warum? Nun, drei Euro ins Phrasenschwein: Das deutsche Wahlsystem ist anders als das der USA. In den Staaten läuft es auf ein direktes Duell raus, Mann gegen Mann. Oder jetzt halt Mann gegen Frau. Wer da die Aussagen von Parteifreunden dementieren muss, dass er nicht mehr genug Lebenskraft habe, der kann gleich aufhören. Was Biden dann ja auch getan hat.
In Deutschland treten Parteien an. Diese klüngeln nach der Wahl in Hinterzimmern die Mehrheiten aus. Spätestens die EU-Wahl hat gezeigt, wie wenig der an der Urne geäußerte Bürgerwille darauf noch Einfluss nimmt. Schon jetzt gibt es in Deutschland faktisch Koalitionen mit vier Parteien. Etwa in Thüringen, wo die CDU den Linken- Ministerpräsidenten und dessen Koalitionspartner SPD und Grüne mitträgt. Verfallen die etablierten Parteien weiter, könnten solche Viererkoalitionen bald zur Normalität werden.
Die Umfragen sagen auch, dass die Grünen zusammen mit der AfD die Partei sind, die die meisten Wähler ausdrücklich nicht wollen. Trotzdem ist es genau die Partei, die sie nach nahezu jeder Wahl von den diversen Koalitionspartnern serviert bekommen. Nicht mehr die Wahl entscheidet also über Regierungen und deren Politik – sondern das Geklüngel im Hinterzimmer.
Vorhang auf für Olaf Scholz. Im echten Leben mag er ein Hamburger Aal sein, der sich mit Schutzbehauptungen aus seiner Verantwortung für Skandale windet. Die olle Barkasse, mit der Deutschlands Wirtschaft untergeht. Doch im politischen Hinterzimmer bewegt sich Scholz wie ein Fisch im Wasser. Da zeigt er die genialische Selbstsicherheit eines Boris Beckers in Wimbledon oder einer Gina Wild in Pornos. Das Hinterzimmer ist die eine Hoffnung, auf die Scholz über 2025 hinaus setzt.
Die andere Hoffnung ist die Schwäche der anderen Parteien: Die Schwäche der Union, die aus Machtkalkül genau jene Grünen an der Regierung halten will, derer die Bürger so überdrüssig sind. Genauso wie es die FDP getan hat, wofür sie jetzt abgestraft wird. Oder die Schwäche der Linken, die vom Strudel der Geschichte schon in Richtung U-Rohr gespült werden.
Moralisch verwerflich. Brutal unfähig und erfolglos. Das trifft alles auf Olaf Scholz zu. Aber schlau ist Mister Gedächtnisverlust halt auch. Auf die Schwäche der anderen hat er schon einmal gesetzt. Und gewonnen. 2021. Als die Union auf Armin Laschet baute. Wobei sich ganze Aufsätze schreiben ließen, warum dieser Mann komplett ungeeignet für alles ist. Aber es genügen auch vier Worte: Er ist Armin Laschet.
Und dann war da noch Annalena „Ich habe in London studiert“ Baerbock, die vom Völkerrecht kam und von den Medien schon zur Kanzlerin ausgerufen wurde. Geklaute Ideen für ein Buch? Gefälschter Lebenslauf? Fehlende Qualifikation? Baerbock, die Medien und deren Faktenchecker fanden gute Ausreden für diese Vorwürfe. Blöd halt nur für alle drei, dass ihnen immer weniger Bürger glauben.
Scholz hat 2021 die Lücke erkannt, die Laschet und Baerbock gelassen haben. Er ist mit einem klugen Konzept in diese Lücke geprescht. Zum einen hat er sich als zwar farbloser, aber seriöser Fachmann inszeniert. Angesichts von Gegenkandidaten wie Laschet und Baerbock ein vielversprechendes Image. Zum anderen hat Scholz als ihr Vizekanzler eine Art Versprechen dargestellt, die Merkel-Jahre ohne großen Bruch zu verlängern. Auch wenn ein Heer von Biografen dagegen anschreibt: Im Bewusstsein der Deutschen waren die Merkel-Jahre wirtschaftlich erfolgreiche Jahre. Zwar war das ein Leben auf Pump, aber das stört notorische Schuldner halt nicht, solange sie noch Kredit haben.
2025 wird Scholz seine Taktik nicht wiederholen können: Den seriösen Arbeiter nimmt ihm nach CumEx, Verhöhnung der Bürger, permanenter offener Rechtsbrüche, ständiger Widersprüche etwa in der Einwanderungspolitik oder einer verheerenden Wirtschaftslage niemand mehr ab. Und jetzt, da allmählich die Kredite zurückgezahlt werden müssen, sehen die Deutschen auch die Merkel-Jahre kritischer.
Stattdessen wird es die Taktik des Kanzlers sein müssen zu behaupten, dass doch alles gar nicht so schlecht sei. Schwierig. Zumal die kritischen Stimmen aus den eigenen Reihen allmählich hörbar werden. Sei es die des Verteidigungsministers aus der SPD, der zurecht sagt, dass Scholz nicht genug Geld für das bereitstellt, was er in der Verteidigungspolitik an anderer Stelle verspricht. Sei es der notorische Rechtsblinker und Linksabbieger Wolfgang Kubicki vom Koalitionspartner FDP. Oder der eigene Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich, dessen Sozialkonzept erst verwirklicht ist, wenn alle in Deutschland Lebenden Bürgergeld erhalten.
Die Taktik zu behaupten, es sei alles in Ordnung, ist aber die letzte, die der SPD bleibt. Also müssen die Sozialdemokraten diese durchziehen. Kritik an ihrem Kandidaten, wie es die Demokraten mit Biden getan haben, können sich die Genossen nicht leisten. Also bestärken sie Scholz so wie Parteichef Lars Klingbeil im Sommerinterview mit der ARD: „Der Bundestagswahlkampf hat ja noch gar nicht begonnen“, beschwört Klingbeil die Chancen der SPD. Da ist er wie der Trainer eines abgeschlagenen Bundesligisten, der am 27. Spieltag mit zehn Punkten Rückstand verkündet: „Die Hoffnung stirbt zuletzt.“ Drei Euro dafür ins Phrasenschwein. 30 Euro für Klingbeils Sommerinterview.
Doch so hohl die Sprache des SPD-Chefs auch ist. Klingbeil sieht der traurigen Wahrheit ins Auge: Nur die Beschwörung, dass alles gar nicht so schlecht sei, kann die Sozialdemokraten in einer fairen demokratischen Wahl noch retten. Dann sind sie darauf angewiesen, dass das Angebot neben ihnen noch erbärmlicher erscheint als ihres. Stand jetzt ist das gar nicht mal so unwahrscheinlich, wie es eigentlich sein sollte.