Tichys Einblick
Lage in Israel

Warten auf den Angriff der Mullahs

Was genau Hisbollah und Iran im Schilde führen, weiß niemand. Die iranischen Führer sind mit ihren Drohungen auf einen Baum geklettert, von dem sie schwer wieder runterkommen. So lange herrscht in Israels angespanntes Warten.

picture alliance / Sipa USA | PRESSCOV

Zehn Monate nach dem Überfall palästinensischer Terroristen auf Südisrael hat sich ein weiteres Kapitel dieses anhaltenden Horrors geschlossen: Am Dienstag wurde bekannt, dass Bilha Jinon, eine Bewohnerin der Ortschaft Netiv HaAssara direkt an der Gaza-Grenze, am 7. Oktober ermordet wurde. Die Seniorin war die letzte Person, deren Schicksal bis zuletzt als ungeklärt galt.

Bei allen übrigen noch fehlenden Menschen wird davon ausgegangen, dass sie in Geiselhaft palästinensischer Terroristen gehalten werden. 115 Personen sollen das noch sein, inklusive vierer Geiseln von vor dem 7. Oktober. Bei vielen ist bereits bekannt, dass sie nicht mehr am Leben sind. Eine grausame Realität, die mittlerweile aber international teils als unabänderlich akzeptiert wurde.

Monatelange Verhandlungen für einen zweiten Geiseldeal sind bislang zu keinem Abschluss gekommen. Die Seiten können sich über konkrete Fragen der Umsetzung nicht einigen, etwa von wo sich die israelische Armee bei einem Waffenstillstand zurückziehen muss und wo sie präsent bleiben darf.

In Israel mehren sich mittlerweile Stimmen, die Premierminister Benjamin Netanjahu vorwerfen, einen Deal aus persönlichen machttaktischen Gründen hinauszuzögern. Das Sicherheitsestablishment, mit dem Netanjahu teils auf Kriegsfuß steht, übt schon länger Druck aus, zu einer Einigung mit der Hamas zu kommen, notfalls auch zu vergleichsweise schlechten Bedingungen.

Das Land bereitet sich vor

Völlig überlagert wird der Krieg im Gazastreifen in diesen Tagen von der Sorge vor einem bevorstehenden iranischen Angriff und einer massiven Attacke der schiitischen Hisbollah-Miliz aus dem Libanon. Sowohl Iran als auch Hisbollah haben Rache geschworen, nachdem Israel am 30. Juli zunächst in Beirut einen Vertrauten des Hisbollah-Chefs Hassan Nasrallah tötete und einen Tag darauf Hamas-Chef Ismail Hanija einem Attentat in der iranischen Hauptstadt Teheran zum Opfer fiel.

Seitdem herrscht in Israel angespanntes Warten: Krankenhäuser sind für eine Eskalation vorbereitet, die Verteilung von Lebensmittelpaketen wurde geprobt. In der Lokalpresse ist nachzulesen, welche Supermärkte als „eiserne Filialen“ fungieren, also auch im Kriegsfall offenbleiben. Angeblich sollen Minister bereits mit Satellitentelefonen ausgestattet worden sein. Am Donnerstag hielten Regierungs- und Militärspitze ihre Konsultationen in einem Kommandoraum unter dem Hauptquartier in Tel Aviv ab – als Probelauf, wie es hieß.

Nasrallah versucht es mit psychologischem Terror

Die Hisbollah nimmt das alles genüsslich zur Kenntnis: Auf ihrer Website gibt die Terrormiliz sogenannte „Feindnachrichten“ wieder, in denen Vorbereitungen, Ängste und Spekulationen in Israel dargestellt werden. Generalsekretär Nasrallah hatte am Dienstag in einer Rede verkündet, es sei bereits Teil der „Bestrafung“, dass Israel so lange auf den Angriff der Hisbollah warten müsse.

Es ist der typische psychologische Terror, der allerdings nur teilweise Wirkung zeigt: Von den nötigen Vorbereitungen abgesehen, hält Israel bislang die sogenannte „Schigra“, also die Alltagsroutine, aufrecht. Das Heimatfrontkommando hat sich entschieden, Einschränkungen erst dann zu verhängen, wenn sich ein Angriff konkret abzeichnet. Und was Nasrallah natürlich verschweigt: Mit seinem Zögern terrorisiert er auch die libanesische Bevölkerung, die im Falle eines israelischen Gegenschlags mit überproportionalem Tod und Zerstörung rechnen muss.

Was genau Hisbollah und Iran im Schilde führen, weiß niemand. Wahrscheinlich scheint, dass die libanesische Terrormiliz ihren auch aktuell täglich fortgesetzten Beschuss auf die unmittelbare Grenzregion in Richtung Zentralisrael eskaliert. So könnte insbesondere Haifa, die große Stadt im Norden, ins Visier geraten, womöglich aber auch Tel Aviv.

Es gilt, Teherans Drohungen ernst zu nehmen

Was den Iran angeht, so sind iranische Anführer durch ihre eskalierende Rhetorik unmittelbar nach dem Attentat auf Hanija hoch auf einen Baum geklettert, von dem sie jetzt nur noch schwer herunterkommen. Viele Beobachter gehen davon aus, dass Teheran Israel direkt angreifen und dabei über das Ausmaß der ersten Attacke vom April hinausgehen wird. Damals hatte der Iran mehr als 300 Raketen und Drohnen auf den jüdischen Staat gefeuert. Allerdings beschränkte sich das Mullah-Regime auf eine einzige Angriffswelle, die Israel und seinen Partnern durch einen langen Vorlauf mehrere Stunden Zeit ließ, ihre Reaktion zu koordinieren.

Teheran kann nun an vielen Stellschrauben drehen, um die April-Attacke nicht nur zu wiederholen, sondern zu intensivieren: zwei anstatt einer Angriffswelle etwa, eine geringere Vorlaufzeit oder eine stärkere Einbeziehung der regionalen Stellvertreter wie insbesondere der Hisbollah. Eine deutliche Eskalation würde es bedeuten, sollte das Mullah-Regime einen Vertreter Israels direkt ins Visier nehmen, ob Politiker oder Militärs innerhalb Israels oder Diplomaten in einem Drittstaat.

Zuletzt wurden Hoffnungen laut, der Iran könne sich doch stärker zurücknehmen als befürchtet. Ob Wunschdenken westlicher Diplomaten oder ernsthafte Aussicht: Aus israelischer Sicht bleibt wichtig, Teherans Drohungen ernst zu nehmen. Die Vernichtungswünsche der Mullahs sind keine bloße Propaganda: Chamenei und Co. halten den Untergang der „zionistischen Einheit“ für ein real anzustrebendes und erreichbares Ziel. Mit westlicher Logik von Abschreckung und Militärstrategie kann man einem derartigen religiösen Fanatismus nur bedingt beikommen.

Deutsches Maulheldentum

Während Israel also mit dem schlimmsten rechnet und auf das beste hofft, hat die drohende Eskalation auch in Deutschland eine Debatte ausgelöst, ob sich die Bundeswehr an der Verteidigung gegen einen iranischen Angriff beteiligen soll. CDU-Verteidigungspolitiker Roderich Kieswetter legte zum Wochenbeginn im Deutschlandfunk nahe, deutsche Kampfjets sollten auch direkt anfliegende Geschosse eliminieren.

Als der Iran Israel im April angriff, hatte die Bundeswehr lediglich bei der Luftbetankung geholfen. Das wird auch dieses Mal wohl das höchste der Gefühle bleiben – wenn überhaupt. Denn im politischen Berlin stößt Kiesewetters Vorstoß auf wenig Gegenliebe. Am Wochenende hatte SPD-Verteidigungsminister Boris Pistorius bereits wissen lassen, eine Beteiligung deutscher Soldaten an einer Schutzoperation für Israel sei für ihn „gerade völlig unvorstellbar“.

Die vielbeschworene Staatsräson entlarvt sich damit wieder einmal als Maulheldentum: Während deutsche Politiker, beseelt von Deutschlands „historischer Verantwortung“, zwischen Holocaust-Gedenktag und 9. November große Reden schwingen, dürfen in der Realität die USA, Frankreich und Großbritannien Jets aufsteigen lassen, um Israel zu verteidigen.

So war es schon im April gewesen. Damals hatten Berichten zufolge sogar mehrere arabische Länder, ganz sicher aber Jordanien direkt oder indirekt an der Abwehr des Angriffs mitgewirkt – schon aus reinem Eigeninteresse, weil die Raketen jordanische Bürger bedrohten, wie Amman seinerzeit betonte. In Israel hofft man nun, dass sich diese gemeinsame Abwehrleistung im Falle einer weiteren Attacke der Mullahs wiederholen lässt.

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