Tichys Einblick
TICHYS LIEBLINGSBUCH DER WOCHE

Leben mit dem Abgrund: Wie uns Philosophie helfen kann

In krisenhafte Zeiten suchen viele Menschen nach Antwort auf die Frage, wie der herrschende Irrsinn, Kriege und Not zu erklären sind. Schlechte Zeiten sind der Nährboden der Philosophie. Ein schmales Buch gibt den Überblick und zeigt Einstiege.

Es gibt Bücher, die rufen nach einem Bleistift: einem Werkzeug, mit dem man Richtiges unterstreichen, Erkanntes mit einem Rufzeichen markieren will. Das passierte mir mit „Leichter leben mit Philosophie“.

Wir leben in zunehmend verunsichernden Zeiten und müssen feststellen, dass wir den äußeren Umständen der vielen Krisen, die auf uns hereingebrochen sind, nicht gewachsen sind, dass wir diese nicht verändern und die Krisen aus eigener Kraft nicht beenden können. Die triviale Antwort findet sich in immer abenteuerlicheren Verschwörungstheorien; die gepflegte Antwort suchen Denker, die dafür zum Philosophen geadelt werden. Viele stellen sich die Frage, wie sie mit diesen Krisen umgehen sollen, um nicht an ihnen zu verzweifeln und hoffnungslos zu werden.  In diesen Zeiten kann Philosophie zum Zufluchtsort für alle werden, die die Orientierung in einer immer chaotischer werdenden Welt suchen. Und diejenigen, die sich mit diesem Wunsch an sie wenden, kann sie trösten und ihnen Hoffnung geben.

Aber der Einstieg in die Philosophie ist abschreckend. Schon mal Hegel im Original versucht, oder Nietzsche genossen und Adorno verköstigt? Wer nicht gerade in Untersuchungshaft sitzt, hat kaum Zeit dazu, auch wenn draußen die Zeiten immer wirrer und herausfordernder werden.

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Dies ist  keine neue Erkenntnis, sondern sie geht auf die Antike zurück. Wenn von der Philosophie als Kunst, mit den Schwierigkeiten des Lebens fertig zu werden, gesprochen wird, denkt man zuerst an die antike Weisheitslehre, an die Stoa, und dabei vor allem an Seneca, Marc Aurel und Epiktet. Diese Philosophie ist sehr alltagsnah und beschäftigt sich mit der Frage, wie wir, trotz aller Widrigkeiten, ein zufriedenes, erfüllendes Leben führen können. Diese Widrigkeiten, der Abgrund, gehört für den Stoiker zum Leben dazu. Die Stoa selbst entstand in einer Krisenzeit, als die griechischen Kleinstaaten aufgelöst wurden und im Imperium aufgingen. Die damalige Gesellschaft wurde von einem rasanten Wandel erfasst. Heute würde man diesen Prozess als „große Transformation“ bezeichnen, der ebenfalls von oben betrieben wird, auch wenn er sich nicht in blutigen Schlachten vollzieht, wie seinerzeit zwischen den griechischen Kleinstaaten.

Die Stoiker machten die Erfahrungen, mit denen wir auch in den heutigen Krisen fertig werden müssen, zum Beispiel dem Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit, das in der Corona-Zeit sehr deutlich wurde oder aber auch der Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit angesichts des Krieges in der Ukraine. Dieser Abgrund gehört für den Stoiker zum Leben dazu und uns bleibt ebenfalls nichts anderes übrig, als mit diesem Abgrund zu leben.

Der römische Philosoph Seneca (+ 65 n. Chr.) plädiert dafür, alles, was uns im Leben widerfährt, aber auch das Leben selbst, nur als Leihgabe zu sehen, von der wir nicht wissen, wann wir sie zurückgeben müssen. Wenn wir diese Leihgabe irgendwann zurückgeben müssen, sollten wir das ohne Gram tun. Ein wichtiges Merkmal der stoischen Philosophie ist die Ataraxie, die Seelenruhe, eine innere Ruhe, die sich auch durch die äußeren Umstände nicht erschüttern lässt. Der Begriff bezeichnet eine, zugegebenermaßen, ideale Lebenseinstellung, mittels derer es gelingt, das unberechenbare Handeln der Götter, beziehungsweise Ereignisse des Schicksals gelassen und ruhig akzeptieren zu können und nicht daran zu verzweifeln.  Sollte Sie also das Verbot ereilen, das Ihre mühsam finanzierte Heizung oder Ihr Dieselfahrzeug stilllegt – nehmen Sie es mit Ataraxie. Das Leben geht ja weiter.

Die Grundzüge dieser Philosophie finden sich in Senecas Schriften „Vom glücklichen Leben“ und „Über die Ausgeglichenheit der Seele“ wieder. Für den Stoiker Epiktet (+135 n.Chr.) ist die Philosophie eine praktische, gelebte Tätigkeit mit dem Ziel, ein innerlich freies Leben, angesichts äußerer Umstände, die wir nicht ändern können, zu erlangen. Philosophie ist die einzig wahre Lebensform, um innere Freiheit zu bekommen und sich von den äußeren Umständen nicht unterdrücken zu lassen. Auch für Marc Aurel (121-180 n. Chr.) ist das Ziel des philosophischen Strebens das Erreichen der Seelenruhe.

Philosophische Hoffnung ist eine Hoffnung, die sich den jeweiligen Verhältnissen anpasst und ein Zugeständnis an die Widrigkeiten des Lebens, auf die man keinen Einfluss hat.

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Das besondere an „Leichter leben mit Philosophie“ ist der flotte Ritt durch über 2000 Jahre Geschichte des Denkens. Kurz werden die großen Denker vorgestellt, bis an die Nahtstellen zur Gegenwart. Man gerät ins Lachen, wenn man Theodor W. Adornos „Popmusik als ästhetische Grausamkeit liest“; die aktuellen Musikprogramme der Radios werden zwar nicht besser, aber die eigene Haltung ironischer. Wir haben Sisyphos als unglückliches Wesen kennengelernt, das vergeblich Steine den Berg hinaufträgt, nur um zuschauen zu müssen, wie sie wieder zu Tal rollen. Aber er war glücklich, lehrt uns Albert Camus. Ist nicht jeder Angestellter in seinem mühevollen Tun, das von einem Vorgesetzten oder einer Behörde gleich wieder vernichtet wird, eine Art Sisyphos der Moderne – die Frage ist nur: Glücklich oder nicht? Da helfen Betrand Russells „Betrachtungen über das Glück“ oder Seneca „Über die Ausgeglichenheit der Seele“.

Das ist das Faszinierende an diesem Buch: Es hilft beim Auffinden, verlockt dazu, die kurzen Texte durch Studium der Originaltexte zu vertiefen und aus vielen Facetten zusammenzusetzen und bei Immanuel Kant erstaunlich moderne Gedanken „zum ewigen Frieden“ auf der Welt zu finden.

Viele philosophische Sätze benutzen wir verkürzt im Alltag. Hier findet man die Quellen. Ein Schlagwortregister erleichtert die Suche und das Weitermachen, Weiterlesen, Hoffen.

Denn Hoffnung bedeutet, das Leben anzunehmen, wie es ist. Hoffnung ist ein Vertrauen auf die eigene innere Stärke und darauf, an den Widrigkeiten nicht zu zerbrechen. „Denn in einem tieferen Sinn“, so der Philosoph und Mediziner Giovanni Maio (*1964), „hofft man nicht auf etwas, sondern auf sich selbst.“ Wenn man dagegen die Hoffnung aufgibt, so bedeutet das im Umkehrschluss, dass man sich selbst aufgibt.

Helga Ranis, Leichter leben mit Philosophie. Quell-Verlag, Taschenbuch, 200 Seiten, 14,90 €


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