Tichys Einblick
Karlsruher Fehlurteil mit Fortsetzung

Zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts über die Wahlrechtsreform

Es gibt mehr Wahlrechtsgesetze als Legislaturperioden. Eine Unzahl von Verfassungsbeschwerden und Wahleinsprüchen waren die Folge. Doch mit keiner der vielen höchstrichterlichen Entscheidungen ist es den Verfassungsrichtern gelungen, Rechtsfrieden zu stiften. Von Manfred C. Hettlage

© Fotolia

Am 15. Juni 1949 wurde das Bundeswahlgesetz (BGBl S. 21) verkündet. In 20 Legislaturperioden gab es 26 Wahlrechts-Änderungsgesetze bzw. Änderungsversuche. Es gibt mehr Wahlrechtsgesetze als Legislaturperioden. Eine Unzahl von Verfassungsbeschwerden und Wahleinsprüchen waren die Folge. Doch mit keiner der vielen höchstrichterlichen Entscheidungen ist es den Verfassungsrichtern gelungen, Rechtsfrieden zu stiften. Der 20. Deutsche Bundestag hat regulär 598 Plätze (Soll-Zahl), es gibt aber nur 299 Wahlkreise, dafür aber 736 Parlamentarier. Es gibt also nicht nur zu wenige Wahlkreise, auch im 20. Deutschen Bundestag sitzen noch immer viel zu viele Abgeordnete.

Das jüngste Urteil zum BWahlG, das am 30. Juli 2024 ergangen ist, beginnt mit einer langatmigen – und völlig überflüssigen – Vorrede zur Geschichte von Gesetzgebung und Urteilsliteratur seit Gründung der Bundesrepublik im Jahre 1949. Das ist schon sehr auffällig. Über die heftige Kritik in der wissenschaftlichen Veröffentlichung (DVBl 2020. S. 1249): „Alles zerfließt – die obiter dicta des Bundesverfassungsgerichts wollen nicht zueinander passen“ muss sich das Hohe Gericht in Karlsruhe offenbar sehr geärgert haben. – Der betroffene Hund bellt, aber er beißt nicht.

„Manipulation“ der Wahl

Die erste bedeutsame Entscheidung der Verfassungsrichter zum Bundeswahlrecht (BWahlG) stammt aus dem Jahre 1957 (Entscheidungen: 7/63). Anders als heute war der Urteilstext zu dieser Zeit noch keine 70 Seiten lang, sondern sehr kurz. Das Gericht sagte damals, wiederholte es aber nie wieder: „Gewiss eröffnet das Institut der Überhangmandate Manipulationsmöglichkeiten (…).“ Damit war höchstrichterlich auch für Laien nachvollziehbar klargestellt: Ein Gesetz, das zu Überhängen führt, ist ein schlechtes Gesetz. Die gerügten „Manipulationen“ sind jedoch fester Bestandteil der meisten Wahlen geblieben. Es hat sie von 1949 bis 1961 und von 1980 bis heute immer gegeben: Zuerst nur in einstelliger, ab 1994 fast immer in zweistelliger Größenordnung. „Manipulation“ der Wahl? … erst einstellig? … später sogar zweistellig? Und die Verfassungsrichter machten dabei Jahrzehnte lang mit – ohne mit der Wimper zu zucken.

Bundesverfassungsgericht
Das Wahlrechtsurteil: Ein Schlag gegen die Demokratie
Ja, das höchste Gericht hat immer beide Augen zugedrückt. Niemals hat es den Gesetzgeber dazu verurteilt, ein Wahlrecht ohne „Manipulationsmöglichkeit“ zu schaffen. Im Gegenteil, 2012 hat es sogar gesagt: 15 Überhänge seien zulässig, mehr als 15 auch, wenn die „Manipulation“ „ausgeglichen“ werde. (Entscheidung: 131/316) Eine Kompensation von Unrecht gibt es aber nicht. Gleichwohl sah sich der Bundestag höchstrichterlich dazu gedrängt, Ausgleichsmandate auch im Bund einzuführen, die es in verschiedenen Ländern, darunter auch im Freistaat Bayern, schon viel früher gab. Dort gibt es die schon 1957 höchstrichterlich gerügte „Manipulationsmöglichkeit“ noch heute und sie ist zu allem Überfluss sogar in Art.14 der bayerischen Verfassung verankert.

Die Regierung unter Angela Merkel hat dann 2013 in vorauseilendem Gehorsam sogar die 15 Überhänge ausgeglichen, obwohl das Gericht das gar nicht verlangt hat. Und damit ist die Gesetzgebung vollends vom Regen in die Traufe geraten.

Zwei Jahrzehnte später haben die drei Fraktionen der Ampel-Koalition überraschend doch noch den Mut gefunden, aus dem verfassungswidrigen Irrsinn wieder auszusteigen und das Ergebnis der Wahl nicht länger „auszugleichen“. Und das war gut so. Denn wer das Wahlergebnis ausgleicht, der verfälscht es auch. Das gleiche Verfassungsgericht hat in einer neuen Besetzung jetzt eine totale Kehrtwende vollzogen und den Ausstieg aus den Ausgleichsmandaten gebilligt. Die Ausgleichsmandate sind endlich wieder weg, aber die sogenannten Überhänger sind geblieben.

Die Wahl erfolgt länderweise

Deutschland ist ein Bundesstaat. So steht es im Grundgesetz. Und die Verfassungsrichter wissen das natürlich. Die Abgeordneten werden länderweise gewählt. Die Saarländer wählen sieben Saarländer in den Bundestag; den Bayern stehen dort 93 Bayern zu; und die Wähler aus NRW sind mit einem Landes-Sitzkontingent von 127 „Nordlichtern“ mit dabei. Prüft man das nach, kommt es zu einer Überraschung: Denn aus dem Saarland stammen 9 Saarländer (statt 7); die Bayern wählen 117 (statt 93) Bayern in den Bundestag; und 156 (statt 127) Abgeordnete kommen aus NRW. Schwer zu glauben, doch dieser Bruch der föderativen Besetzung des gemeinsamen Parlaments geschieht unter den Augen der Verfassungsrichter. Und jetzt kommt es knüppeldick: Weil die sogenannte Zweitstimmen-Deckung fehlt, sollen Überhänger nach dem Willen der Ampel-Koalition aus dem Bundestag entfernt werden, obwohl sie gewählt worden sind.

Legt man das auf die Waage der Gerechtigkeit, gerät sie sofort aus dem Gleichgewicht. Hätte das neue BWahlG der Ampel schon bei der Wahl vom 26. September 2021 Anwendung gefunden, hätte die CSU-Landesgruppe im Bundestag 11 von 45 wohlerworbenen Direktmandaten verloren. Das ist jeder vierte Abgeordnete der CSU. Das ist mit der CSU in Bayern natürlich nicht zu machen. In Baden-Württemberg, das kleiner ist als Bayern, hätte die CDU sogar 12 Direktmandate eingebüßt. Die SPD wäre mit 10 Überhängern dabei. Und der AfD würde ein Direktmandat fehlen. Insgesamt wäre der Bundestag um 34 von 299 direkt gewählten Abgeordneten verkleinert worden, obwohl sie in ihren Wahlkreisen die meisten Stimmen erzielt haben. Und was sagt das Verfassungsgericht? – Unfassbar aber wahr: Es verwirft das nicht, es stimmt dem zu.

Verbotene Direktmandate gibt es nicht

Die Serie der höchstrichterlichen Fehlurteile findet also ihre Fortsetzung: Die Wähler wählen. Die Zähler werfen das Wahlergebnis über den Haufen und setzen 34 Wahlkreis-Sieger mir nichts dir nichts vor die Türe des Bundestages. Damit hat sich wieder einmal gezeigt: Auch Verfassungsrichter können irren, aber sie irren endgültig! Und noch etwas: Was die Richter einmal entschieden haben, das nehmen sie niemals wieder zurück. Die Meinung des Gerichts ändert sich erst, wenn sich die Richterbank geändert hat.

DER PODCAST AM MORGEN
Bundesverfassungsgericht rettet CSU vor Ampel-Wahlrechtsänderung - TE-Wecker am 3. August 2024
Wenn das Wahlergebnis aus 299 Wahlkreisen ausgezählt wird, können daraus nicht mehr als 299 Direktmandate entstehen. Für 34 vermeintliche Überhänger, die man zu den 299 Direktmandaten hinzufügen darf, gäbe es keine zusätzlichen Stimmkreise. „Verbotene“ Direktmandate gibt es nicht. Ihnen fehlen die Wahlkreise. Ohne Stimmkreis keine Abstimmung. Und ohne Abstimmung kein Mandat, also auch kein sogenannte „Überhangmandat“, vor allem aber auch kein „Ausgleichsmandat“. Bei 299 Direktmandaten verbleiben 299 verteilungsfähige Listenplätze, um die Soll-Zahl der 598 Plätze im Bundestag mit 598 gewählten Abgeordneten zu besetzen. Der Bundestag würde sich dann aus 299 direkt gewählten und weiteren 299 nicht direkt gewählten Abgeordneten zusammensetzen.

Nicht direkt gewählte Abgeordnete? Hier stehen wir doch vor der Kernfrage, um die es geht: die Verhältniswahl. Bei der Europa-Wahl vom 9. Juni 2024 wurde nach diesem Verfahren gewählt. Die sogenannte „Verhältniswahl“ ist aber keine unmittelbare Wahl: weder im (einfachrechtlichen) Sinne von § 1 Abs. 1 EU-WahlG, noch im (grundrechtlichen) Sinne von § 28 Abs. 1 und § 38 Abs. 1 Grundgesetz, in denen die allgemeinen Grundsätze des Wahlrechts gleichlautend konkretisiert werden. Die Verhältniswahl ist vielmehr eine mittelbare Wahl. Die Wähler kennzeichnen auf dem Stimmzettel der Verhältniswahl keine Person. Sie kennzeichnen eine Partei.

Undemokratisch und verfassungswidrig

Die EU-Wahl war, wie gesagt, keine Personen-Auswahl, die das Grundgesetz verlangt, sie war eine Parteien-Auswahl. Und: „Eine bloße Parteienwahl schließt die Verfassung aus.“ Originalton des Verfassungsgerichts. Vgl. Entscheidung: 97/317 (323); und zuvor: Entscheidung: 95/335 (349). Dazu will es überhaupt nicht passen, wenn das Verfassungsgericht gleichzeitig betont, das Wahlgesetz sei „in seinen Grundzügen eine Verhältniswahl“. – Entweder „Hüh“ oder „Hott“, aber nicht beides gleichzeitig.

Entscheidung war vorab im Internet abrufbar
Bundesverfassungsgericht annulliert Wahlrechtsreform in entscheidendem Punkt
Die Verhältniswahl ist eine Blockwahl. Und die Blockwahl ist hochumstritten. Rupert Scholz und andere halten sie für „undemokratisch und verfassungswidrig“. (Vgl. R. Scholz, „In guter Verfassung“.) Weil das Wahlvolk über die Listen der Parteien „en bloc“ abstimmt, kann man nicht einmal aus den fünf Listenführern eine Auswahl treffen, die stellvertretend für alle auch auf dem Stimmzettel stehen. Die danach noch verbleibenden Namen auf den Listen sind den Wählern ohnehin völlig unbekannt. Denn sie stehen zwar auf irgendeiner Liste, aber nicht auf dem Stimmzettel. Damit wird dieser zu einer „Black Box“. – Der Wähler kauft die Katze im Sack.

Auf die personelle Zusammensetzung und die alles entscheidende Reihenfolge in den Listen der Parteien haben die Wähler keinen Einfluss. Bei einer Blockwahl können die Wähler nicht einmal die Person frei bestimmen, die sie im Bundestag vertreten soll. Diese Entpersonalisierung der Wahl führt unweigerlich zu einer Entfremdung zwischen Wählern und Gewählten. Auch deshalb macht sich eine allgemeine Politikverdrossenheit breit, die ihre Wurzel in dem vom Wahlvolk nicht mehr nachvollziehbaren Wahlverfahren hat.

Und noch etwas: Der namentlichen Einzelwahl in 299 Wahlkreisen ist die Sperrklausel fremd. Dagegen kommt die Verhältniswahl nicht ohne Fünf-Prozent-Hürde aus. Diese Hürde führt dazu, dass ganze Parteien, wie die Linke mit 29 Mitgliedern im Bundestag, von der Bildfläche verschwinden würden, wenn es nicht die sogenannte Grundmandats-Regel gäbe. Danach tritt die Sperrklausel außer Kraft, wenn die Partei mehr als zwei Direktmandate errungen hat. Hier hat der Zweite Senat des BVerfG nicht mit sich handeln lassen. Die Sperrklausel bleibt, wie sie ist. Gewiss, Reform an Haupt und Gliedern ist das nicht, aber doch ein heller Lichtblick. Immerhin!


*) Der Autor Manfred C. Hettlage lebt in München und hat als freier Publizist und Blogger in Tichys Einblick zahlreiche Beiträge und mehrere Bücher zum Wahlrecht veröffentlicht. Zu den Fundstellen vgl. hier; zur Vita des Autors.

Anzeige
Die mobile Version verlassen