Was bedeutet die berühmte Staatsräson? Darüber wird gerätselt, seit Angela Merkel Israels Sicherheit 2008 vor der Knesset zum Teil ebenjener Staatsräson erklärte. Bis heute konnte niemand diese Aussage befriedigend auslegen. Dafür wurde über die Jahre immer wieder deutlich, was Staatsräson alles nicht bedeutet: Staatsräson heißt zum Beispiel offenbar nicht, den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan öffentlich zur Räson zu rufen, wenn der Israel unverhohlen mit einer militärischen Intervention droht.
So gerade geschehen: Am Sonntag führte Erdoğan bei einer Veranstaltung seiner Gerechtigkeits- und Aufschwungspartei (AKP) aus, sein Land müsse „sehr stark“ sein, „damit Israel nicht diese Dinge mit den Palästinensern machen kann“. Und dann: „So wie wir in Bergkarabach reingegangen sind, so wie wir in Libyen reingegangen sind, werden wir mit ihnen dasselbe tun“ – es gebe „nichts, was wir nicht tun können“.
Drohung mit Invasion?
In israelischen Medien wurde das vielfach als Androhung einer Invasion in den jüdischen Staat aufgefasst. Erdoğan selbst ließ offen, was er mit „reingehen“ meinte. Sowohl in Libyen als auch in Bergkarabach intervenierte Ankara Berichten zufolge unter anderem, indem es syrische Söldner und Drohnen in die Krisenländer schickte. Nach Libyen entsandte die Türkei zudem eigene Soldaten.
Erdoğans politischer Partner Devlet Bahçeli, Anführer der islamistischen Nationalistenpartei MHP, unterstrich am Montag via X, die türkische Nation stehe „geschlossen gegen das völkermordende Israel“: „Natürlich sollten alle möglichen Szenarien auf der Tagesordnung stehen; alle politischen, strategischen und militärischen Vorbereitungen sollten verstärkt werden.“ Und das türkische Außenministerium bekräftigte, das „Ende des völkermordenden Netanjahu“ werde genauso kommen, „wie das Ende des genozidalen Hitler kam“.
Beobachter verweisen auf die innenpolitische Dimension von Erdoğans Äußerungen: Der Präsident, der im November bereits seinen Botschafter aus Tel Aviv zurückziehen und im Mai die Handelsbeziehungen zu Israel aussetzen ließ, wolle seine islamistische Basis befriedigen.
Israelische Analysten plädieren dennoch dafür, den AKP-Chef ernst zu nehmen. So sagte Alon Liel, früher Generaldirektor des israelischen Außenministeriums und Geschäftsträger der Botschaft in Ankara, im Radiosender 104,5 FM, Erdoğan werde keine Truppen nach Israel schicken: „Was er versuchen wird, ist, die Kräfte, die uns bekämpfen, militärisch oder durch Geld zu unterstützen.“
Erdoğan ist ein guter Freund der Hamas
Tatsächlich schreckt Erdoğan schon seit Jahren nicht vor Kontakten zur Hamas zurück, die er als „Widerstandsorganisation“ verklärt. Die bislang im Gazastreifen herrschenden Islamisten unterhalten längst ein wichtiges Standbein in der Türkei. Mehrfach ließ sich der türkische Präsident mit Hamas-Führern ablichten, auch nach den Massakern in Südisrael vom 7. Oktober.
Liel verweist auf eine mögliche Invasion Israels im Libanon: „Erdoğan sieht jeden Eintritt Israels in den Libanon als halben Weg in seine Richtung. Er kann Truppen in den Libanon schicken, wie er es bereits in der Vergangenheit getan hat.“ Tatsächlich ventilierte Erdoğan in seiner Rede am Sonntag einmal mehr die Verschwörungstheorie, Israel könne die Türkei angreifen: „Wer kann garantieren, dass jene, die heute Gaza zerstört haben, morgen nicht ihre dreckigen Augen auf Anatolien richten?“
Gallia Lindenstrauss, Forscherin am Institut für Nationale Sicherheitsstudien in Tel Aviv, sagte der israelischen Website N12, auch sie glaube nicht an eine Invasion; eine militärische Intervention sei aber möglich: „Vielleicht eine Aktion, die von der Drohnenbasis der Türkei auf Zypern ausgeht oder mittels der türkischen Marine. Das wird nicht morgen früh geschehen, aber in dem Moment, in dem jemand solche Worte sagt, muss man deren Wahrscheinlichkeit prüfen.“
Eitan Cohen, Türkei-Experte am Mosche-Dajan-Zentrum für Sicherheit in Tel Aviv, schreibt in einem Beitrag für die Zeitung Israel Hajom, niemand dürfe das Schlimmste ausschließen: „Israel kann es sich nicht leisten, Erdoğans Drohung zu ignorieren.“ Der türkische Präsident habe eine Grenze überschritten: „Offen hat er die Idee eines ‚zukünftigen Krieges‘ mit Israel ins Bewusstsein der türkischen Bevölkerung getragen.“
Bundesregierung will das „nicht näher kommentieren“
Aus westlicher Sicht ist an der Angelegenheit nicht zuletzt pikant, dass Erdoğans Türkei Mitglied der Nato ist – und innerhalb des Bündnisses auch noch, gemessen an den Soldaten, die zweitgrößte Streitmacht nach den USA unterhält. Im Arsenal der Türkei befinden sich zudem nicht nur amerikanische, sondern auch zahlreiche in Deutschland produzierte Leopard-Panzer (und, ganz nebenbei, auch Systeme aus israelischer Produktion).
Trotzdem herrscht in der Nato großes Schweigen über Erdoğans Drohgebärden: Weder die USA noch Deutschland haben seine Aussage bislang verurteilt. Die stellvertretende Regierungssprecherin Christiane Hoffmann erklärte am Montag in der Bundespressekonferenz auf Nachfrage lediglich, man habe das „natürlich zur Kenntnis genommen“. Sie werde die Drohung aber „hier nicht näher kommentieren“. Das Auswärtige Amt schweigt sich auf TE-Anfrage ebenfalls aus.
Mehrere israelische Medien berichten übereinstimmend, dass israelische Offizielle über die Zurückhaltung der westlichen Verbündeten enttäuscht sind. Das Außenministerium in Jerusalem teilte am Montag mit, Außenminister Israel Katz habe seine Diplomaten angewiesen, Kontakt zu Nato-Mitgliedern aufzunehmen: Die Türkei müsse verurteilt und aus der Allianz ausgeschlossen werden. Dazu wird es natürlich nicht kommen: Die Türkei ist für die Nato als Tor in den Nahen Osten von geostrategisch entscheidendem Wert, weswegen auch deutsche Politiker sich seit jeher äußerst handzahm gegenüber Ankara geben.
Wilders nimmt kein Blatt vor den Mund
Die bisher einzige europäische Stimme, die Erdoğans Einlassung klar öffentlich verurteilte, ist Geert Wilders. Der niederländische Rechtspolitiker und Islamkritiker mit pro-israelischer Ausrichtung bezeichnete den türkischen Präsidenten in einem Beitrag bei X als „Islamofaschist“, der „total verrückt“ sei: „Die Türkei sollte aus der Nato fliegen.“
Wilders hat gerade erst eine Koalition in den Niederlanden auf die Beine gestellt, in der seine Freiheitspartei PVV stärkste Kraft ist. Er ist zwar selbst nicht Regierungsmitglied, doch seine Stimme hat Gewicht. Diplomatische Auswirkungen seiner Äußerungen scheint Wilders wenig zu scheuen: Als er jüngst zum wiederholten Mal behauptete, angesichts seines großen palästinensischen Bevölkerungsanteils sei eigentlich Jordanien „Palästina“, bestellte Amman den niederländischen Botschafter ein.