Tichys Einblick
Zweierlei Maß

Was die EU selbst darf, sollen die EU-Staaten nicht dürfen

Chuzpe kann man den Brüsseler Eurokraten nicht absprechen: In ihrem neuen „Jahresbericht zur Rechtsstaatlichkeit“ versuchen sie gar nicht mehr zu verbergen, dass sie für sich selbst Sonderrechte beanspruchen. Die Länder sollen gefälligst unterlassen, das zu tun, was in der EU gang und gäbe ist.

picture alliance/dpa | Philipp von Ditfurth

Wenn Ihnen – sagen wir mal: Ricarda Lang in vorwurfsvollem Ton Ernährungshinweise gäbe, weil Sie angeblich zu viel essen. Oder wenn Annalena Baerbock mahnende Worte fände, weil Sie angeblich zu viel mit dem Flugzeug unterwegs sind. Oder wenn Christian Lindner Ihnen einen ernsten Tadel ausspräche, weil Sie angeblich zu viel Geld ausgeben: Dann würden Sie, lieber Leser, sich mit großer Wahrscheinlichkeit enorm veralbert fühlen – und das völlig zurecht.

Ähnlich angesäuert dürfte man heute in Berlin, Budapest, Rom und Wien sein.

Denn die EU-Kommission hat ihren sogenannten „Jahresbericht zur Rechtsstaatlichkeit“ veröffentlicht. Darin verteilt sie im Brüssel-typischen Oberlehrer-Sound Noten an die Justizsysteme der Mitgliedsstaaten. Und wo die Eurokraten-Zentrale schon mal bei der Zensurvergabe ist, kritisiert sie – ebenfalls EU-typisch – weit über ihren eigentlichen Auftrag hinaus nicht nur die Rechtssysteme, sondern gleich alles, was ihr gerade nicht passt.

Auch Deutschland bekommt sein Fett weg

Die Bundesrepublik tue nicht genug, um die Rechtsstaatlichkeit zu verbessern. Zunächst einmal sieht der Bericht bei der Bezahlung von Richtern und Staatsanwälten Luft nach oben. Es sagt viel über die Denkstruktur in Brüssel aus, dass man das dort für ein ernstes Problem des deutschen Rechtsstaats hält.

Doch das ist nur sozusagen das Vorspiel, es wird noch viel besser. Denn der Bundesregierung wird vorgeworfen, den Auskunftsanspruch der Medien gegenüber Behörden nicht schnell genug zu verbessern. Das stimmt zwar – aber diesen Hinweis dürfte man sich in Berlin nicht unbedingt gerne von einer Organisation vorhalten lassen, die nach allen Regeln der Kunst Journalisten in der Arbeit behindert und Dokumente zurückhält oder „nicht finden kann“ – zum Beispiel, wenn es um die Aufklärung der Hinterzimmer-Deals zwischen Frau von der Leyen und Pfizer in der Corona-Zeit geht.

Auf Ungarn schlägt die EU-Kommission ja bei jeder sich bietenden Gelegenheit ein

Ministerpräsident Viktor Orbán will (zum Wohle seines Landes) partout nicht der EU-Politik bei der Migration folgen und lehnt aus guten Gründen auch eine diplomatische Eskalation gegenüber Russland ab. Wenig überraschend revanchiert sich Brüssel jetzt und sieht „bei der Rechtsstaatlichkeit Ungarns große systemische Probleme“.

Für deutsche Ohren geradezu satirisch klingt die Aufforderung des Berichts, Budapest möge doch gefälligst „die redaktionelle Unabhängigkeit der öffentlich-rechtlichen Medien fördern“. Eine sehr große Mehrheit der deutschen Zwangsgebührenzahler würde sich wohl einen solchen Hinweis auch mit Blick auf das Wirken von ARD, ZDF und Deutschlandradio wünschen.

Auch um Italiens ÖRR sorgt sich die EU

Den Rechtsstaatlichkeits-Bericht nutzt die Kommission zu einem Rundumschlag: Alles, was ihr missfällt, wird den Lieblingsgegnern vor die Füße gekippt. Giorgia Meloni soll die Finanzierung ihrer öffentlich-rechtlichen Medien garantieren, damit die weiter senden können. Das ist ein bemerkenswerter Eingriff in die nationale Souveränität Italiens und eine blanke Missachtung des italienischen Wählerwillens. Denn wenn man in Rom eine parlamentarische Mehrheit dafür bekommt, die öffentlich-rechtliche RAI abzuschaffen: Was geht es Brüssel an?

Wie anmaßend die EU-Kommission ist und wie ungerührt sie mit zweierlei Maß misst, zeigt sich am Vorwurf, Meloni schüchtere Presse-Organe ein. Aus deutscher Sicht ist das Kinderkram: Bei uns werden Presse-Organe mittlerweile nicht mehr von der Regierung eingeschüchtert, sondern gleich verboten. Dazu schweigen sowohl der Bericht als auch die Kommission. Deutschland ist, anders als Italien, für die EU-Zentralisten halt immer noch eine wichtige Stütze.

Richtiggehend lustig ist die Forderung, Rom müsse mehr gegen versteckte Partei- und Wahlkampffinanzierung tun. Denn begründet wird das damit, dass es in Italien möglich sei, Spenden über politische Stiftungen und Vereine zu leiten und so zu verschleiern. Wer sich jemals mit dem System der parteinahen Stiftungen bei uns beschäftigt hat, findet jetzt vor Lachen nicht in den Nachtschlaf.

Österreich soll ebenfalls in Sack und Asche gehen

Die EU-Kommission kritisiert vor allem die „politische Einflussnahme auf Postenbesetzungen“ in der Justiz der Alpenrepublik. Das ist der zweitgrößte Brüller des ganzen Berichts: Denn die Richter am sogenannten Europäischen Gerichtshof (EuGH) werden ausschließlich von den nationalen Regierungen ernannt. Die EU prangert also eine Praxis bei einem Mitgliedsstaat an, die sie selbst pflegt. Das könnte man auch als dreist empfinden.

Der mit Abstand größte Brüller aber ist dies: Der EU-Bericht rügt Wien wegen unzureichender Überwachung von Lobbying. Der Vorwurf kommt von derselben EU, die halbherzig bis gar nicht gegen systematische und bis in die höchsten Kreise des EU-Parlaments reichende Bestechung von Abgeordneten durch nicht-europäische Staaten und Regierungen vorgegangen ist.

Wenn zwei das Gleiche tun, ist es halt noch lange nicht dasselbe.

Erst im Februar hatte die EU-Kommission ein sogenanntes Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn wegen angeblicher Verstöße gegen den Grundsatz der Demokratie und der EU-Grundrechtecharta eingeleitet. Das tat Brüssel, ohne rot zu werden – und ohne sich an die Worte des früheren luxemburgischen EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker zu erinnern. Der hatte einst freimütig bekannt:

Wäre die EU selbst ein Staat, würde sie nicht die demokratischen Voraussetzungen erfüllen, um in der EU Mitglied zu werden.

Wie freihändig sich die EU-Kommission bis heute an ihre eigenen Regeln hält, sieht man auch an dem „Rechtsstaatsbericht“ selbst: Denn dessen Veröffentlichung wurde verschoben – damit die Kritik an einigen Ländern nicht womöglich die Wiederwahl Ursula von der Leyens zur Kommissionspräsidentin gefährdet.

„Europa ist ein geiles Land“

Das war ein Werbe-Slogan der BILD-Zeitung zur Fußball-Europameisterschaft in diesem Jahr. Springers Blatt ließ den Satz von der Schlagersängerin Kerstin Ott zur Melodie von Beethovens neunter Symphonie trällern.

Wer sich das real existierende Brüsseler Imperium so ansieht, den dürften massive Zweifel beschleichen. Die Menschen in der Union empfinden das offenbar ganz ähnlich: 25 Prozent sehen sich „überhaupt nicht“ oder „eher nicht“ als EU-Bürger, weitere 45 Prozent nur „teilweise“. Noch nicht einmal jeder Dritte betrachtet sich „voll und ganz“ als EU-Bürger.

Europa ist ein geiles Land? Eher nein.

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