Das Anredeproblem „Du oder Sie?“ ist ein Klassiker für Deutschlerner, aber auch für die Deutschen selbst. Seit den 1970er Jahren hat sich die Duz-Zone ausgeweitet, es gibt immer mehr Bereiche, wo sich alle duzen – aber wo liegt die Duzgrenze? Der aktuelle Duz-Trend begann mit der 1968-er-Bewegung, als die Studenten anfingen, einander zu duzen. Vorher war unter Studenten, die sich nicht näher kannten, das „Sie“ selbstverständlich. Schüler duzten sich, Studenten nicht – außer Burschenschaftler, die schon 1818, bei der Gründung der „Allgemeinen Teutschen Burschenschaft“, das Gruppen-Du einführten: „Um das engere Band der Eintracht und Brüderlichkeit zu bezeichnen, nennen sich alle Burschenschaftsmitglieder Du“, heißt es in ihrer Verfassungsurkunde.
„Brüderliches“ Du und „unerträgliches“ Sie
Der Wunsch nach einem – gehoben ausgedrückt – brüderlichen Miteinander ist der Hauptgrund dafür, dass in den letzten Jahrzehnten viele Gruppen, Firmen und Organisationen dazu übergingen, intern Du statt Sie zu verwenden: „Ein allgemeines Du fördert das Miteinander“ und den „Teamgeist“, heißt es; “Duzen schafft Nähe“ und „flache Hierarchien“. Demgegenüber hat das traditionelle Sie einen schweren Stand: Es schaffe „Distanz“, grenze ab, sei „hierarchisch“. Andererseits gilt es als Höflichkeits- und Respektform, und in diesem Sinne äußerte Bundeskanzler Kohl: „Zu Russland muss man Sie sagen“.
Das Du klingt heute gegenüber dem Sie „modern“ und „jugendlich“. Sprachgeschichtlich ist allerdings das höfliche Sie jung, es wurde erst im 18. Jahrhundert üblich. Dem 16-jährigen Goethe, damals Student in Leipzig, passte diese neumodische Anrede überhaupt nicht: „Euer Brief“, schreibt er 1765 an einen Frankfurter Schulkameraden, „ist mir eben zugestellet worden; die Versicherung, dass Ihr mich liebt, … würde mir mehr Zufriedenheit erweckt haben, wenn sie nicht in einem so fremden Tone geschrieben wäre. Sie! Sie! ̶ das lautet meinen Ohren so unerträglich … dass ich es nicht sagen kann.“ Später hat Goethe das Sie gepflegt – in ihrem Briefwechsel (1794-1805) verkehrten Schiller und Goethe per Sie – und nur wenigen Personen das Du angeboten.
Öffentliches „Sie“ – privates „Du“
Das zweigliedrige deutsche Anredesystem Du – Sie setzte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts allgemein durch: Das Sie verdrängte die älteren Höflichkeitsformen „Ihr“ (für 1 Person) und „Er/Sie + 3. Person Singular“ (Kommt Er/Sie heute Abend?); das Du wurde vor allem zum Zeichen wechselseitiger Zuneigung, weil das einseitige Duzen (der Höhergestellte duzt nach unten, erhält aber eine Respektanrede) massiv zurückging. Kinder durften nun ihre Eltern duzen ̶ eine Anrederevolution, die Goethe nicht mehr mitmachte: Er selbst hat seine Mutter nie geduzt und wurde von seinem Sohn August (geb. 1789) gesiezt: „Ich sehne mich recht nach Ihnen“, schrieb ihm das siebenjährige Kind, und als Erwachsener unterzeichnete August seine Briefe an den Vater mit „Ihr dankbarer Sohn“.
Auch die „Obrigkeit“ musste ihre Untertanen siezen: Die Anrede „Sie + Herr“ stand für bürgerliche Gleichheit und Selbstbestimmung (der Männer). Insgesamt ergab sich folgende Abgrenzung von Du und Sie, die bis Ende des 20. Jahrhunderts die Regel war: Im öffentlichen Raum ist die Anrede mit „Sie“ üblich, im privaten Bereich gilt bei bestimmten sozialen Beziehungen (unter Verwandten, Freunden, Kameraden usw.) das gegenseitige „Du“. Kinder werden grundsätzlich geduzt, ebenso wie Personen in der Lyrik (Gedichte mit Anrede-Sie sind sehr selten).
Das neue, öffentliche „Du“
Das heute verbreitete Duzen in Firmen, Organisationen und im Umgang mit Kunden wird gerne als „Duz-Kultur“ bezeichnet. Faktisch ist es aber ein Duz-Zwang (vergleichbar dem Zwang zum Gendern): Es handelt sich um keinen normalen Sprachwandel, sondern eine Sprachsteuerung von oben. Die Meinung, mit dem allgemeinen Du würden zwischen-menschliche Barrieren und Hierarchien abgebaut, ist eine Illusion: Im Konfliktfall sticht der Ober den Unter – gleichgültig ob per Sie oder Du. Übrigens können die Deutschsprecher durchaus unterscheiden zwischen einem rein konventionellen Du („Hier duzt man sich“) und einem Freundschafts-Du, dem ein Sie vorausging.
Der deutsche Staat hält sich mit dem Duzen seiner Bürger noch zurück. Kein Finanzamt duzt den Steuerzahler, aber beim sogenannten „Bürgergeld“ ist man – zumindest in Berlin – schon weiter: Die dortigen Jobcenter informierten in einer Plakatkampagne die möglichen Bezieher unter der Schlagzeile „Du findest uns zu bürokratisch“, wie einfach man an dieses Geld kommt: „Tatsächlich genügt bereits ein Antrag auf Bürgergeld und wir prüfen, auf welche Leistungen du Anspruch hast.“
Vor zwei Jahrzehnten hätte man dieses Du als „herablassend“ bewertet, heute gilt es als „inklusiv“ und „menschenfreundlich“ – entsprechend dem Leitspruch der Berliner Jobenter: „Immer menschlich, immer für dich da.“