In eigener Sache zu entscheiden, gilt im allgemeinen Verständnis als befangen und daher unzulässig, ja unanständig. Nicht so in der Politik. Politiker entscheiden am laufenden Band nicht nur über sich selbst, sondern für sich selbst – im eigenen Interesse, zum persönlichen Vorteil: mit einer Selbstverständlichkeit, nie nahezu niemandem überhaupt noch aufzufallen scheint.
An den Beginn des zweiten Teils der Besprechung des Buches „DIE HEBEL DER MACHT UND WER SIE BEDIENT – Parteienherrschaft statt Volkssouveränität“ von Hans Herbert von Arnim möchte ich deshalb stellen, was der Autor von John Locke zitiert, dessen politische Philosophie die Verfassungen der amerikanischen und der französischen Republik prägte:
„Den Mitgliedern der gesetzgebenden Versammlung ist es versagt, ein Gesetz zu erlassen, das allein ihnen Vorteile bringt. Sie sind lediglich ermächtigt, in Sachen Allgemeinheit zu entscheiden, nicht aber in eigener Sache.“
Wer die deutsche Republik erneuern will, wird ihr eine Verfassung geben müssen, die vom Volk abgestimmt wird. Ginge es nach mir, würden aus dem Grundgesetz die Grundrechtsartikel in die Verfassung übernommen und alles andere möglichst knapp und präzise neu gefasst. Eine gute Verfassung überzeugt durch Kürze, nicht durch Länge. Die eben zitierten Worte von John Locke passen 1:1 in eine deutsche Verfassung.
Von Arnim braucht 300 von 350 Seiten, um darzustellen, wo und wie Parteien und Politiker mithilfe der Rechtssprechung (die sie durch Personenauswahl beeinflussen) sich und die von ihnen gerne Abhängigen permanent selbst bedienen. An der Spitze seiner Darstellung erklärt er das Dickicht der Regeln der Macht. Von Arnims zentrale Feststellung:
„Die grundlegende Bedeutung der Regeln der Macht erkennt man auch daran, dass Wahlrecht, Politikfinanzierung, Ämterpatronage und die restriktive Behandlung von Elementen direkter Demokratie zu den ‚Hebeln‘ gehören, mit denen die Parteien sich des Staates bemächtigt, ihn zum Parteienstaat geformt und eine politische Klasse mit eigenen Macht-, Status- und Einkommensinteressen ausgebildet haben. Die Erkenntnis, dass der Parteienstaat das Produkt der Selbstermächtigung von Parteien ist, die Parteien sich ihn also sozusagen angeeignet und einverleibt haben, muss seine Legitimation erschüttern.“
Politikfinanzierung ist ein harmloses Wort. Was alles dazugehört, ist kein öffentliches Thema. Die staatliche Parteienfinanzierung ist der kleinste Teil. Wird das Parteiengesetz oder Parteienfinanzierungsgesetz geändert, gibt es einmal mehr, einmal weniger nennenswertes Medienecho. Wir aber im Bundeshaushaltsplan (oder den Länderhaushalten) durch Änderung des „Titels“ wesentlich mehr Geld bewegt – wie bei der Höhe der Mittel für Fraktionen und Angeordnetenmitarbeiter – kriegen das weder die meisten Abgeordneten noch die Öffentlichkeit mit. Die Bestellung von Verfassungsrichtern ist einmal eine kurze Meldung wert, die Bestellung von Beamten oft keine.
„Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache“ sind solche über das Wahlsystem, Abgeordnetendiäten – Diäten, welch irreführendes Wort – , Aufgaben und Finanzierung von Parteien, Fraktionen und parteinahen Stiftungen, aber auch den finanziellen Status von Regierungsmitgliedern. Alterversorgung weit jenseits der Hoffnungen der Masse der Normalbürger, Begünstigungen in der Krankenversorgung seien nur beispielhaft genannt. Das Gestrüpp der Annehmlichkeiten durchschauen nur wenige Experten.
Von Arnim „unterstellt keineswegs, das Parlament und seine Abgeordneten handelten immer nur eigennützig“. Dem Richter ist verboten, „Urteile zu fällen, die ihn selbst betreffen“, der Richter und Verwaltungsbeamte darf keine Angelegenheiten entscheiden, „die ihn selbst (seine Angehörigen, sein Unternehmen oder seine sonstige Späre) betrifft.“ Die Abgeordneten dürfen, das Parlament darf, für sich und die eigene „Firma“ in Gestalt der Parteien, Fraktionen und Stiftungen.
In Berlin gibt es so doppelt so viele Journalisten wie seinerzeit in Bonn, so dass sie sich einen harten Wettbewerb um News liefern müssen. Aber um die Spielemacher in den Fraktionen kümmern sich kaum welche. Dabei liegen dort die Gold-News auf den Gängen und in den Stammlokalen der Finanzspezialisten.
Von Arnim verweist auf die Entstehung des Übels: „Die Väter des Grundgesetzes hatten das Problem des Entscheidens in eigener Sache noch nicht gesehen. Eine staatliche Parteienfinanzierung war ihnen noch fremd, und die Diäten galten als bloße Aufwandsentschädigung für ehrenamtlich tätige Abgeordnete; sie waren deshalb gering und sahen keine staatsfinanzierte Altersversorgung vor. Parteipolitischer Ämterpatronage sollte das ausdrückliche grundgesetzliche Verbot einen Riegel vorschieben.“ (Art. 33 Abs. 2)
Es finden sich im Grundgesetz, in Verfassungsgerichtsurteilen und vom Parlament selbst beschlossen Gesetzen und Verfahrensregeln checks and balances. Aber, so von Arnim, „die ganze Dimension des Dilemmas“ kulminiert in der Tatsache, „dass das Parlament bei Entscheidungen in eigener Sache alle diese Spielregeln weitgehend unterläuft und aushebelt.“
In den Teilen 2: Verdeckte Aktionen – Wie Parteien agieren und 3: Der Kampf ums Recht: Was darf die Politik in eigener Sache? belegt unser Autor mit typischen Fällen, was real stattfindet: „Charakteristisch ist, dass über Tatsachen getäuscht wird, zum Beispiel werden vergleichbare Regelungen anderer Parlamente unterdrückt oder unrichtig dargestellt. Oder der Inhalt der zu beschließenden Regelungen wird vor der Öffentlichkeit verborgen, etwa durch unverständliche Formulierung. Oder es werden entgegenstehende rechtliche oder politische Argumente, wie zum Beispiel unerwünschte Berichte von Sachverständigenkommissionen, übergangen und verfassungsgerichtliche Urteile ignoriert oder falsch wiedergegeben, um sich öffentliche Auseinandersetzungen zu ersparen und die öffentliche Kontrolle nicht auf den Plan zu rufen. Oder es wird zur Abschirmung gegen erwartete Kritik der Bericht einer Gefälligkeitskommission vorgeschoben.“
„Blitzgesetzgebung“ und „Beratungen“ im Parlamentsplenum, bei denen sich niemand zu Wort meldet sind typische Warnsignale, sagt von Arnim. Sie kennzeichnet, dass sie eben niemand wahrnehmen kann (oder will). Die Alarmglocke muss immer klingeln, wenn sich alle Fraktionen einig sind. Dann geht es fast immer nicht um die „Gemeinsamkeit der Demokraten“, ihren Konsens mit der breiten Öffentlichkeit, sondern um Kumpanei in eigener Sache.
Warum kommt es in allen solchen Fragen eher selten zu journalistischer Kritik? Von Arnims Feststellungen muss jeder bestätigen, der das Verhältnis von vor allem „Haupstadtjournalisten“ (das Wort gab es übrigens in Bonn nicht) zur Politik gut genug kennt: „Bei Auslandsreisen, zu denen Politiker Journalisten im Flugzeug mitnehmen, und in handverlesenen sogenannten Hintergrundkreisen, von denen es in Berlin mehr als ein Dutzend gibt, werden Journalisten rgelmäßig exklusiv informiert … Heute ist das Gefühl für Distanz als Voraussetzung unbefangener Kontrolle vielfach verlorengegangen. Dabei kann allzu große Nähe zur Politik ‚für kritischen Journalismus tödlich‘ sein, wie Bascha Mika, ehemalige Chefredakteurin der taz, mit Recht schreibt.“
Um die checks and balances, die Gewaltenteilung (einschließlich der selbst ernannten „Vierten Gewalt“ der Presse) ist es in der Berliner Republik schlecht bestellt. Davon weiter im dritten Teil der Besprechung der grundlegendsten und umfangreichsten Analyse des deutschen Parteienstaates, die ich kenne.
Übrigens: Würde sich das Parlament auf seine eigentliche Aufgabe besinnen: politische Richtungsentscheidungen – und aufhören, „Gesetze“ zu machen, die (schlecht verständliche) Verwaltungsvorschriften sind, würde die Politk sich also nicht länger als Laienverwaltung betätigen, könnten Abgeordnete wieder ehrenamtlich tätig sein. Denn mehr als eine Richtungsentscheidung pro Jahr gibt es nicht. Für eine Richtungsentscheidung sind vier Wochen Parlamentsberatung genug – oder? Denn in einer Demokratie würde die Öffentlichkeit ja eine Richtungsentscheidung vorher lange und ausführlich debattieren – oder? In den anderen 11 Monaten könnten die Volksvertreter richtigen Berufen nachgehen.