Tichys Einblick
Faeser gegen Recht und Verfassung

Warum Demokraten auch das Recht von Compact verteidigen sollten

Hat dieses Medium irgendetwas mit dem von Faeser verbotenen Magazin gemein? Nein. Hält der Autor das Verbot trotzdem für einen Frontalangriff auf den Rechtsstaat? Ja. Denn es geht um die Frage, wie unsere Gesellschaft aussehen soll.

picture alliance/dpa | M. Kappeler, K.J- Hildenbrand - Collage: TE

Niemand, der die Texte des Autors kennt, wird die Aussage überraschend finden, dass ich von Jürgen Elsässer und seinem Magazin Compact nichts halte, weder inhaltlich noch stilistisch. Es dürfte auch keinen überraschen, dass er das Recht Elsässers zu publizieren verteidigt und in der Entscheidung von Innenministerin Nancy Faeser, es zu verbieten, einen Frontalangriff auf Recht und Verfassung sieht. Um das Verbot durchzusetzen, missbrauchte Faeser Artikel 9 Grundgesetz, das ein Vereinsverbot regelt; um einen Missbrauch handelt es sich deshalb, weil sie damit Artikel 5 – die Meinungsfreiheit – einfach beiseiteschiebt. Verfassungsrechte begrenzen bekanntlich einander. Keines gilt absolut.

Compact-Verbot
Wie Nancy Faeser den Rechtsstaat mit Füßen tritt
Die Verbotsverfügung schickte das Innenministerium nicht per Zustellungsurkunde, sondern ließ sie Elsässer durch einen Trupp von sturmhaubenmaskierten Polizisten morgens um 6 Uhr an dessen Wohnungstür überreichen, wobei ein ganz offensichtlich und rechtswidrig vorab informierter Pressefotograf aus Idealposition das erwünschte Foto des Compact-Herausgebers im Bademandel schießen durfte. Dem Verbot ging kein Gerichtsverfahren gegen die Publikation voraus, geschweige denn ein Urteil. Gegen Compact gab es noch nicht einmal Ermittlungen wegen Volksverhetzung oder anderer möglicher Straftaten. Dass die Person an der Spitze des Innenministeriums ein Medium ohne Verfahren in einer Exekutiventscheidung verbietet, genauer gesagt: die GmbH, die das Medium trägt – das gab es in der bundesdeutschen Geschichte noch nie.

Wer glaubt, das Verbot der Plattform „linksunten indymedia“ 2017 über das Vereinsrecht wäre das Vorbild gewesen, sollte besser noch einmal nachlesen. Erstens gab es gegen „indymedia“, wo regelmäßig Selbstbezichtigungsschreiben nach linksextremistischen Anschlägen erschienen, mehrere Ermittlungsverfahren; das Medium verfügte nie über ein Impressum und die Klage gegen das Verbot vor dem Bundesverwaltungsgericht in Leipzig scheiterte, weil kein Mitglied des Vereins seine Anonymität aufgeben wollte, sondern das Verfahren ausschließlich einer Anwältin überließ. Eine vom Verein selbst vertretene Klage, meinten damals die Richter, wäre aber eine unabdingbare Voraussetzung gewesen, um das Vereinsrecht zu verteidigen. All diese Umstände treffen auf Compact ganz offenkundig nicht zu.

„Wir machen keine Zeitung, indem wir uns hinter den warmen Ofen oder den Computer verziehen und irgendwelche Texte wie eine Laubsägenarbeit auf den Markt bringen“, meinte Elsässer einmal: „Sondern das Ziel ist der Sturz des Regimes.“ Sein Blatt zeichnet sich durch eine völlige Distanzlosigkeit zu Wladimir Putin und zum iranischen Regime aus; es agitiert gegen Israel und benutzt eine Sprache, die keinen noch so kleinen liberalen Kern erkennen lässt, selbst bei großzügigster Betrachtung. Kurzum, Elsässers Magazin verkörpert in allen wichtigen Fragen das exakte Gegenteil von TE und Publico. Warum verteidigt der Autor dieses Textes trotzdem Jürgen Elsässers Freiheit, seine Meinung zu drucken? Und das auch noch mit einer kleinen historisch-verfassungsrechtlichen Laubsägenarbeit?

Compact-Verbot
Stell dir vor, die Regierung greift die Pressefreiheit an – und die FDP schaut zu
Deshalb, weil es hier nur vordergründig um Compact und dessen Gründer geht. Erstens wirft die Innenministerin mit ihrem Vorgehen gegen einen Publizisten alle Urteile des Bundesverfassungsgerichts seit 1958 zur Meinungsfreiheit über den Haufen. Verfassungsgerichtsurteile – diesen Hinweis braucht es offenbar im Jahr 2024 – sind in Deutschland unmittelbar geltendes Recht. Den zweiten Schlag gegen den alten Verfassungsstaat von Herrenchiemsee und Bonn führen Regierungspolitiker und ihre Nächsten im Medienbereich, die das Verbot bejubeln, so, als gäbe es das Bundesverfassungsgericht gar nicht mehr. Etwa der Grünen-Vorsitzende Omid Nouripour, der Faeser ausdrücklich für ihre Aktion dankt, wie der grüne Europaabgeordnete Erik Marquardt, der einen interessanten Zirkelschluss anbietet, wenn er über die Kritiker des Verbots meint, sie täten so, „als sei das eine illegale Beschränkung der Meinungsfreiheit. Man sollte nicht auf sie hereinfallen. Dass das Verbot in einem Rechtsstaat wie unserem möglich ist, zeigt, dass sie Unrecht haben.“ Eine Ministerin kann also Polizisten in Marsch setzen, um eine ihr nicht genehme Publikation dicht zu machen, und dass sie es kann, beweist dem Grünenpolitiker, dass alles rechtlich korrekt abläuft.

Für die ZDF-Moderatorin Dunja Hayali stellt der exekutive Ritt quer durch den verfassungsrechtlichen Porzellanladen ein „Symbolbild“ dar, wie „Meinung und Freiheit geschützt werden“. Diese Politiker und Medienleute geben damit zu Protokoll, dass sie nichts gegen eine Diktatur einwenden, solange sie nur den richtigen, nämlich von ihnen gutgeheißenen Zielen dient. Mit diesen Leuten ist vielleicht irgendein Staat zu machen, aber keine offene Gesellschaft.

Die entscheidenden Sätze zur Meinungsfreiheit prägte das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 15. Januar 1958, in dem es um den Fall des damaligen Direktors der Pressestelle des Hamburger Senats und der Produktionsfirma des Regisseurs Veit Harlan ging, bekannt geworden als Verantwortlicher des nationalsozialistischen Propagandastreifens „Jud Süß“. Als Harlan in der jungen Bundesrepublik versuchte, mit einem betont unpolitischen Film im Kulturleben wieder Fuß zu fassen, rief der Direktor der Pressestelle Kinos zum Boykott seines neuen Werks auf, und zwar mit der Begründung, dieser Regisseur dürfe mit seiner Vergangenheit nicht für den deutschen Film nach 1945 stehen. Harlans Produktionsfirma erwirkte gegen den Hamburger ein Verbot, seinen Aufruf zu wiederholen; der wiederum zog vor das Bundesverfassungsgericht. In seiner Entscheidung gab es dem Pressesprecher Recht; es definierte zugleich die Rolle der Grundrechte, besonders die von Artikel 5. In den Leitsätzen des Urteils heißt es (‚heißt‘, weil es bis heute gilt):

„1. Die Grundrechte sind in erster Linie Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat; in den Grundrechtsbestimmungen des Grundgesetzes verkörpert sich aber auch eine objektive Wertordnung, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gilt.
2. Im bürgerlichen Recht entfaltet sich der Rechtsgehalt der Grundrechte mittelbar durch die privatrechtlichen Vorschriften. Er ergreift vor allem Bestimmungen zwingenden Charakters und ist für den Richter besonders realisierbar durch die Generalklauseln.
3. Der Zivilrichter kann durch sein Urteil Grundrechte verletzen (§ 90 BVerfGG), wenn er die Einwirkung der Grundrechte auf das bürgerliche Recht verkennt. Das Bundesverfassungsgericht prüft zivilgerichtliche Urteile nur auf solche Verletzungen von Grundrechten, nicht allgemein auf Rechtsfehler nach.
4. Auch zivilrechtliche Vorschriften können ‚allgemeine Gesetze‘ im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG sein und so das Grundrecht auf Freiheit der Meinungsäußerung beschränken.
5. Die ‚allgemeinen Gesetze‘ müssen im Lichte der besonderen Bedeutung des Grundrechts der freien Meinungsäußerung für den freiheitlichen demokratischen Staat ausgelegt werden.
6. Das Grundrecht des Art. 5 GG schützt nicht nur das Äußern einer Meinung als solches, sondern auch das geistige Wirken durch die Meinungsäußerung.“

Schon in der Corona-Zeit wiesen Politiker und etliche Journalisten darauf hin, Grundrechte könnten durch Gesetze beschränkt werden. Das stimmt grundsätzlich, nur gelten eben auch für diese Beschränkungen Schranken. In dem Urteil von 1958 heißt es (Absatz 32):

Compact-Verbot
Faeser überspannt den Bogen: „eindeutig verfassungswidrig“
„Aus dieser grundlegenden Bedeutung der Meinungsäußerungsfreiheit für den freiheitlich-demokratischen Staat ergibt sich, daß es vom Standpunkt dieses Verfassungssystems aus nicht folgerichtig wäre, die sachliche Reichweite gerade dieses Grundrechts jeder Relativierung durch einfaches Gesetz (und damit zwangsläufig durch die Rechtsprechung der die Gesetze auslegenden Gerichte) zu überlassen. Es gilt vielmehr im Prinzip auch hier, was oben allgemein über das Verhältnis der Grundrechte zur Privatrechtsordnung ausgeführt wurde: die allgemeinen Gesetze müssen in ihrer das Grundrecht beschränkenden Wirkung ihrerseits im Lichte der Bedeutung dieses Grundrechts gesehen und so interpretiert werden, daß der besondere Wertgehalt dieses Rechts, der in der freiheitlichen Demokratie zu einer grundsätzlichen Vermutung für die Freiheit der Rede in allen Bereichen, namentlich aber im öffentlichen Leben, führen muß, auf jeden Fall gewahrt bleibt.“

Dem vorangestellt ist der Kernsatz, der die Meinungsfreiheit als Grundfreiheit definiert, die es überhaupt erst ermöglicht, von anderen Freiheiten Gebrauch zu machen:

„Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung ist als unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit in der Gesellschaft eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt (un des droits les plus précieux de l”homme nach Artikel 11 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789). Für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung ist es schlechthin konstituierend, denn es ermöglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist. Es ist in gewissem Sinn die Grundlage jeder Freiheit überhaupt, ‚the matrix, the indispensable condition of nearly every other form of freedom‘ (Cardozo).“

Dieser Linie blieb das Bundesverfassungsgericht in allen weiteren Urteilen zur Meinungsfreiheit treu. Am 4. Februar 2010 entschied die 1. Kammer des 1. Senats unter dem damaligen Präsidenten Hans-Jürgen Papier konkret, dass auch die Parole „Aktion Ausländerrückführung – Für ein lebenswertes deutsches Augsburg“ in den Schutzbereich von Artikel 5 fällt. Dabei prägten die Richter einen weiteren zentralen Satz, der, um es noch einmal zu betonen, nach wie vor geltendes Recht darstellt: „Meinungen genießen den Schutz der Meinungsfreiheit, ohne dass es dabei auf deren Begründetheit, Werthaltigkeit oder Richtigkeit ankäme. Sie verlieren diesen Schutz auch dann nicht, wenn sie scharf und überzogen geäußert werden. Geschützt sind damit – in den Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG – auch rechtsextremistische Meinungen.“

Diesen Kernsatz wiederholten die Verfassungsrichter fast wortwörtlich in ihrer Entscheidung zu einem Flugblatt des (zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung schon verstorbenen) Rechtsextremisten und NPD-Kaders Jürgen Rieger, in dem er sich speziell gegen die Wehrmachtsausstellung äußerte, grundsätzlich aber auch gegen die Verfassungsordnung. In dem Urteil vom 28. November 2011 heißt es:

„Vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit umfasst sind zum einen Meinungen, das heißt durch das Element der Stellungnahme und des Dafürhaltens geprägte Äußerungen. Sie fallen stets in den Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG, ohne dass es dabei darauf ankäme, ob sie sich als wahr oder unwahr erweisen, ob sie begründet oder grundlos, emotional oder rational sind, oder ob sie als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt werden (vgl. BVerfGE 90, 241 <247>; 124, 300 <320>). Sie verlieren diesen Schutz auch dann nicht, wenn sie scharf und überzogen geäußert werden (vgl. BVerfGE 61, 1 <7 f.>; 90, 241 <247>; 93, 266 <289>). Der Meinungsäußernde ist insbesondere auch nicht gehalten, die der Verfassung zugrunde liegenden Wertsetzungen zu teilen, da das Grundgesetz zwar auf die Werteloyalität baut, diese aber nicht erzwingt (vgl. BVerfGE 124, 300 <320>).“

Natürlich gelten diese Sätze auch für alle sehr weit linken bis linksextremen Meinungen. Sogar dann, wenn sie zum Sturz der verfassungsmäßigen Ordnung aufrufen, zur Errichtung einer Diktatur, ob es sich um die Idee handelt, das eine Prozent der Reichsten in ein Arbeitslager zu verfrachten oder gleich zu erschießen, die Forderung, in Deutschland eine Art Kriegswirtschaft zur Verteilung von Gütern zu errichten, aber auch für die Vorstellung, dass Scharia und Kalifat gut zu Deutschland passen würden.

Faesers Compact-Verbot
Politische Willkür ersetzt den Rechtsstaat
Einen besonderen Schutz brauchen die einschlägigen Meinungsäußerer von linksextremer und islamischer Seite bisher nicht. Die Partei, deren damaliger Vorsitzender Arbeitslager für Reiche für eine erstrebenswerte Idee hielt, stellt in Thüringen den Ministerpräsidenten und in Mecklenburg den Koalitionspartner, Ulrike Herrmann mit ihrer Verteilungsdiktatur gehört zur Stammbesetzung fast jeder Talkshow, Khola Hübsch, die Kalifat und Scharia als gute Alternative zum westlichen Rechtsstaat anbietet, sitzt nicht nur vor der Kamera in Talkshows, sondern auch im hessischen Rundfunkrat. Aber wie gesagt: Sollten sie irgendwann den Schutz ihrer Ansichten gegenüber dem Staat brauchen, gelten die Urteile des Bundesverfassungsgerichts selbstverständlich für sie.

Außerdem alles, was zur Verteidigung der Meinungsfreiheit in diesem Text steht. Und auch für das linksextreme Magazin Jacobin, das offen die Errichtung einer Diktatur fordert und sich dabei auch an ein konkretes Vorbild hält, nämlich die DDR. Die Zeitschrift verteidigt dabei konsequenterweise die Mauer, an der die SED Sozialismusmüde exekutieren ließ. Nur so, argumentiert Jacobin, habe sich eine „Gleichheit von Klassen und Geschlechtern“ durchsetzen können. Für jemanden, dessen Biografie hinter der Mauer begann, lässt sich das schwer ertragen. Trotzdem würde ich auch einen künftigen rechten Innenminister attackieren, sollte er Jacobin nach dem gleichen Muster abräumen wie Faeser gerade Compact. Die Vorstellung von Liberalität, wie die Verfassungsrichter von 1958 und den folgenden Jahren sie prägten, gilt entweder ganz oder gar nicht.

Dass die Faeseristen für ‚gar nicht‘ plädieren, kann eigentlich niemand mehr übersehen. Ein künftiger Illiberaler von rechts müsste sich übrigens nicht ein einziges neues Gesetz und nicht eine einzige Strategie ausdenken. Er bräuchte Faesers Werkzeugkoffer zur Demokratiedemontage einfach nur zu übernehmen. Genau darin liegt übrigens der tiefere Sinn des Machtwechsels in Demokratien. Die Möglichkeit, dass auch der politische Antipode die Regierung stellt, ermahnt die aktuell verantwortlichen Politiker, nur solche Instrumente zu schaffen und zu benutzen, die sie auch in der Hand ihrer Gegner noch ertragen können. Die Möglichkeit des Wechsels erzieht zur Mäßigung. Zu der Geisteshaltung von Faeser und ihren Unterstützern gehört deshalb zwangsläufig die Beschwörung, dass es nicht zu einem Machtwechsel kommen darf.

Den Versuch, gerade das Demokratietypische zu unterbinden, nämlich den Wechsel, gibt es nicht nur in Deutschland. Er lässt sich gerade auch in den USA besichtigen. Am Sonntag erschien in der New York Times ein Meinungsbeitrag, der zwar noch vor dem Attentat auf Trump in Druck ging, aber erst danach erschien und deshalb – auch wenn sich das dafür verantwortliche NYT-Redaktionskollektiv dagegen wehrt – jetzt vor einer veränderten Kulisse gelesen werden muss. „Er ist gefährlich in Worten, Taten und Handlungen“, heißt es dort über Trump, was im Subtext bedeutet: Nur Biden oder eine Ersatzperson der Demokraten darf die Vereinigten Staaten führen.

Compact-Verbot
Faesers Sturmhauben der Demokratie
Selbstredend gibt es die Wiederholung in deutsch, immer erkennbar daran, dass sich die entsprechenden Medien wie der Bayerische Rundfunk noch etwas mehr hervortun als das Original. In der Bundesrepublik gibt es nach der entsprechenden Logik den Ruf nach einer Allparteienkoalition notfalls unter Einschluss sehr weit links stehender Kräfte, damit das politische Pendel selbst in den ostdeutschen Bundesländern nicht in die andere Richtung schwingt.

Ein Wechsel der politischen Richtung selbst von sehr weit links nach sehr weit rechts und zurück trägt mehr dazu bei, ein Land im demokratischen Spektrum zu halten als ein moralgepanzertes Machtkartell, das sich selbst zur einzig möglichen Verkörperung von Staat und Demokratie erklärt. Immerhin gibt es einen kleinen Anlass zur Hoffnung. Während Regierungspolitiker und Medienleute wie Dunja Hayali das Compact-Verbot beklatschten, äußern sich auch einige Linksliberale öffentlich dagegen, unter ihnen zwei Redakteure der Zeit, der Publizist und Medienkritiker Stefan Niggemeier und der Sprecher des PEN Berlin Deniz Yücel und viele weitere.

Dies- und jenseits dieser Demarkationslinie sortieren sich zwei Lager, für die das Links-Rechts-Schema nicht mehr passt. Die Vorstellung, dass ein sehr weit gezogener Freiheitsrahmen allen Ansichten und auch Rändern viel Raum lassen sollte, solange sie die Grenze zum Gewaltaufruf nicht überschreiten, steht auf der einen Seite. Der Glaube, dass einem das selbstempfundene Gute die Lizenz erteilt, formale Regeln unterzupflügen, auf der anderen. Die Pointe liegt darin, dass die Verfassungsrichter von 1958 bis 2011 zu der ersten Gruppe gehören, unabhängig von ihrer parteipolitischen Ausrichtung. Hier stehen also diejenigen, deren Ansicht zur Verfassung und zu einer offenen Gesellschaft passen und dort die anderen, die darangehen, die schon stark demolierte alte Republik von Herrenchiemsee und Bonn ganz beiseitezuräumen. Für sie wäre es kein Problem, wenn sich das nächste Verbot gegen ein anderes Medium nicht so weit am Rand richtet, solange es nur rechts von ihnen siedelt. Sie würden erst in Aufregung geraten, wenn der Innenminister einer anders ausgerichteten Regierung nach Faesers Vorbild beispielsweise die Junge Welt verbietet, die mindestes so weit links- wie Compact rechtsaußen steht.

Die antisemitische Einfärbung verbindet die beiden übrigens. Und warum dann nicht gleich Ulrike Herrmann das Publizieren verbieten? Schließlich fordert sie auch nichts weniger als den Sturz des bisherigen Systems, das so etwas wie individuelle Rechte, Eigentum und Selbstbestimmung vorsieht. Die Antwort der zweiten Gruppe, die ebenfalls die bisherige Ordnung sprengen, lautet dann, siehe oben: Ja eben deshalb müssen wir buchstäblich um jeden Preis verhindern, dass jemals andere herrschen, nicht nur im Regierungsviertel, sondern auch in der Sinnproduktion – denn sonst fielen die verfassungswidrigen Instrumente ja in die Hände der Falschen.

Die Zeit fragte 2016 nach dem Brexit: „Was, wenn die Falschen gewinnen?“ Der Verfasser hielt Demokratie augenscheinlich nicht für ein Verfahren zur Ermittlung von Mehrheiten, sondern für einen endlos verlängerten Endkampf von Wahr gegen Falsch, wobei er von vornherein weiß, was Falsch und wer die Falschen sind. Aber immerhin stellte er noch die Frage. Das neue Diktum der Wohlgesinnten lautet: Um die Falschen von der Macht fernzuhalten, sind alle Mittel erlaubt, den Abriss der Verfassung inbegriffen. Der Rechtstheoretiker Hans Kelsen, Autor des 1929 erschienen und heute in der politisch-medialen Klasse völlig vergessenen Buchs „Vom Wert und Wesen der Demokratie“ prägte den eigentlich selbstverständlichen Satz: „Demokratie kann sich nicht dadurch verteidigen, daß sie sich selbst aufgibt.”

Die Beschwörung der Verfassung erscheint vielleicht dem einen oder anderen altmodisch, womöglich sogar naiv. Das kann man so sehen. Aber nur diese klassische oder meinetwegen postklassische Sicht passt überhaupt zu einer offenen Gesellschaft. Und sie erfordert es, auch das Recht desjenigen zu verteidigen, dessen Ansichten man verabscheut.

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