Tichys Einblick
Dirigent statt Dissident

Orbáns Weltdiplomatie: Hat er doch den Segen der Nato?

Während Orbán reihum die Gegner des Westens trifft, hagelt es Kritik von allen Seiten. Nur von der Nato nicht: Man werde Orbán auf dem kommenden Natogipfel anhören, sagte Generalsekretär Stoltenberg.

picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Vivien Cher Benko

Seit dem ersten Juli steigt ein herzzerschneidendes Wehklagen gen Himmel, angestimmt von den bangen Wahrern moralischer Reinheit in Brüssel, Berlin und ganz allgemein in Westeuropa. Viktor Orbán, der Fürst der Finsternis, ist aus seiner Burg zu Budapest in die Lüfte aufgestiegen, und gesellt sich seither reihum zu den mächtigsten Feinden des Westens. Putin, die vereinigten Turkstaaten, Chinas Präsident Xi Jinping. Naht das Höllenfeuer der Verderbnis?

Nur eine Stimmes dieses Chores der Europa-Engel schweigt. Es ist die Stimme der Nato. Während man sich in Brüsseler EU-Gefilden die Haare raufte und vor Kummer die Kleider zerriss, weil Orbán „uns nichts gesagt hat”, konstatierte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg kühl, Orbán habe die Nato sehr wohl über seine Reisepläne informiert. Es sei aber „nicht mit der Nato koordiniert” gewesen.

Umso bemerkenswerter ist es, dass die hochgradige Geheimhaltung der Reise lückenlos gelang: Es bedeutet, dass jene ranghohen Nato-Offiziellen, die davon wussten, den EU-Europäern ebenfalls kein Wort verrieten. Entweder das, oder die EU-Europäer selbst waren doch im Bilde, und schreien nur pro forma.

Am Freitag äußerte sich Stoltenberg zur Orbán-Reise recht ausführlich, ohne dass ein einziger kritischer Satz gegen Orbán dabei gewesen wäre. „Ungarn teilt die Ansicht, dass Russland verantwortlich ist für den Krieg”, sagte Stoltenberg. Das Land habe eine Reihe gemeinsamer Erklärungen unterzeichnet, in denen Russland als Aggressor verurteilt wird. Darüber hinaus komme Ungarn seinen Pflichten als Nato-Mitglied voll nach. Zudem habe Budapest öffentlich erklärt, Russland müsse den Krieg beenden, und dass eine Friedenslösung die territoriale Integrität und Unabhängigkeit der Ukraine respektieren müsse.

Die Nato erwartet Orbáns Bericht

Dann sagte er einen Satz, derwer in nur wenigen der vielen Berichte zu seinen Bemerkungen auftauchte: Beim kommenden Nato-Gipfel in Washington werde Orbán „Gelegenheiten haben“ über über die Ergebnisse seiner Reise „zu diskutieren”.

Wann genau informierte Orbán Stoltenberg? Man weiss es nicht. Aber er sagte einst dem Verfasser dieser Zeilen, dass er beispielsweise in seinen Kontakten mit Angela Merkel möglichst nichts Vertrauliches am Telefon oder schriftlich austauschte, denn von jedem Telefonat „wird immer irgendein Protokoll angefertigt”. Die wichtigen Dinge teilt man einander persönlich mit.

Stoltenberg war am 12. Juni in Budapest. Dabei vereinbarten Nato und Ungarn ganz formell, dass Ungarn in keiner Weise an irgendwelchen Nato-Missionen in Bezug auf die Ukraine teilnehmen müsse, andererseits aber die Nato nicht per Veto daran hindern würde, solche Missionen zu organisieren.

Orbán hat den Zweck seiner „Friedensmission” als informelle Erkundungsreise beschrieben. Außer den Kriegsparteien, so sagte er am Montag, seien für eine Beendigung des Krieges die Positionen der EU, Chinas und der USA von Bedeutung. Auf seiner Reise wolle er erfahren, wo für die jeweiligen Akteure die „Grenzen” sind, also Bedingungen, die sie auf keinen Fall aufgeben werden.

Kann es sein, dass Orbán hier doch eine Aufgabe im Sinne der westlichen Partner erfüllt? Die öffentliche Verabscheuung für Russland im Westen ist mittlerweile so ausgeprägt, dass es sich niemand leisten kann, dorthin zu reisen, um konstruktive Gespräche zu führen. Aber was, wenn Orbán als Vorhut die Bedingungen für eine diplomatische Lösung auskundschaftet?

Es ist zumindest das, was er als geopolitischer „Freelancer” versucht. Aber so ganz ohne Wissen und schweigende Zustimmung der Verbündeten läuft es vielleicht doch nicht ab.

Jedenfalls schlug Orbán nach Kiew, Moskau und einem Abstecher beim Rat der Turkstaaten in Susa in China auf, wo ihn Staatspräsident Xi Jinping empfing. Orbán lobte dessen Friedensplan. Er enthält keine konkreten Vorschläge für eine Beendigung des Krieges, betont die territoriale Integrität der Ukraine, beschuldigt aber die Nato, mit ihrer Expansion russische Interessen verletzt zu haben. Orbán pries zudem Chinas „Eintreten für Frieden und Stabilität in der Welt”.

Nächste Station dürfte der Nato-Gipfel in Washington vom 9.-11. Juli sein. Dort wird es ganz sicher nicht um Frieden gehen, sondern um Eskalation und die Einrichtung einer Nato-Mission in der Ukraine, um vor Ort Waffenhilfe und sonstige Hilfeleistungen der Nato an das Land zu koordinieren. Aber nebenbei kann es sein, dass für den Fall der Fälle Exit-Szenarien angedacht werden: Wie könnte ein denkbares Endspiel aussehen, welche Opfer ist man bereit zu bringen, für welche Gegenleistung? Da wird man Orbán sicher sagen lassen, was er in Kiew, Moskau und Beijing erfuhr.

Obwohl er seine Weltreise als „Friedensmission” verkaufte, wurde auf Orbáns Weltreise vor allem bilateral verhandelt: Mit der Ukraine vereinbarte er die Ausarbeitung eines neuen Grunddokuments für die bilateralen Beziehungen, also eine Art neuen Freundschaftsvertrag. Mit Russland verhandelte er über eine Belebung des bilateralen Handels trotz internationaler Sanktionen, und in China ging es ebenfalls um wirtschaftliche Zusammenarbeit.

In Sachen „Frieden” war in den öffentlichen Formulierungen der jeweiligen Gesprächspartner nicht der Schimmer einer Annäherung zu erahnen. Aber man darf davon ausgehen, dass die wichtigen Dinge eben nicht öffentlich mitgeteilt wurden. Worum es geht, das formulierte Orbán nach seinem dreistündigen Gespräch mit Zelensky am 2. Juli: Soll es erst Friedensverhandlungen und nur bei Erfolg einen Waffenstillstand geben, oder erst einen Waffenstillstand und dann Verhandlungen? Wie bewerten die diversen Akteure die bislang bekannten Friedenspläne? (Also der ukrainische, der chinesische, der russische und jener, der bei der Genfer „Friedenskonferenz” herauskam.) Und schließlich, wie könnte die Sicherheitsarchitektur nach dem Krieg aussehen?

Le Pen schließt sich Orbáns „Patriots for Europe” an

Das sind eminent wichtige Themen, und in einem hat Orbán recht: Irgendwann muss irgendjemand damit beginnen, darüber zu reden. Sonst wird nie etwas daraus.
Wie sehr Orbáns – und Ungarns – Gewicht in der Welt gewachsen ist, zeigte die Nachrichtenlage am Montag. Da war Orbán noch in Beijing, als Ungarn einen weiteren spektakulären Erfolg in der EU-Politik verkündete: Das französische „Rassemblement National” von Marine Le Pen schließt sich der von Orbán lancierten neuen Parteienfamilie „Patriots for Europe” an. Als Orbán diese Gruppierung am 30. Juni verkündete (mal wieder zur Überraschung aller westlicher „Ungarn-Experten”) wurde er noch belächelt. So viel Bombast! Die Gruppe werde sehr schnell die drittstärkste Fraktion im Europaparlament werden, sagte er damals, und wurde dafür skeptisch belächelt.

Nun, am 8. Juli war es mit dem RN-Beitritt so weit. Die komplette ID-Fraktion war damit zur Fidesz-Gruppierung übergetreten, zugleich wuchs die Gruppe durch Mitglieder, die vorher nicht zur ID gehört hatten: Die ehedem liberale tschechische ANO und die spanische VOX (vordem Mitglied bei den EKR). Orbáns Prophezeihung war einmal mehr Wirklichkeit geworden.

Aufgepasst: Er sagte vor einigen Tagen auch, er habe einen Plan, um die PfE in einer späteren Phase zur „zweitstärksten” Gruppe im Europaparlament wachsen zu lassen. Das geht nur über Neuzugänge aus den EKR und vielleicht der EVP. Bis dahin genügt es zu wissen, dass die PfE mit den EKR kooperieren werden, zumindest bei Themen, die nicht die Russlandpolitik betreffen.

Entscheidend ist aber das Gewicht der beiden Gruppen nicht im Parlament, sondern im Rat der Staats- und Regierungschefs. Orbán und Meloni regieren, ANO und FPÖ könnten die kommenden Wahlen in ihren jeweiligen Ländern gewinnen, auch das holländische PfE-Mitglied PVV von Geert Wilders ist Regierungspartei. Der „isolierte” Orbán wird in Europa zum Dirigent einer potenten Opposition.

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