Um zu bemerken, dass es mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 13. Juni 2024 (C-123/22) eine besondere Bewandtnis haben muss, braucht man kein Europarechtler zu sein. Dass an der Entscheidung etwas merkwürdig ist, folgt schon aus dem Vergleich zwischen Antrag und Urteilsspruch. Die Kommission, die gegen den Mitgliedstaat Ungarn ein Vertragsverletzungsverfahren gemäß Artikel 258 ff. EU-Arbeitsweisevertrag (AEUV) angestrengt hatte, hatte wegen der angeblich mangelhaften Umsetzung des Urteils des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) vom 17. Dezember 2020 (C-808/18) ein Zwangsgeld in Höhe von gut einer Million Euro wegen des bisherigen Nichtvollzugs plus 16.393,16 Euro für jeden weiteren Tag ab Rechtskraft der dies bestätigenden Entscheidung des EuGH beantragt.
Verurteilt wurde Ungarn dann zu 200 Millionen Euro Zwangsgeld für den bisherigen Verzug zuzüglich eine Million Euro Zwangsgeld für jeden weiteren Tag ab Rechtskraft der Entscheidung – also, was die Pauschalsumme angeht, das 200-Fache des seitens der Kommission beantragten Zwangsgeldes (!), und was die Tagesrate angeht, immer noch das 60-Fache. Dass diese Entscheidung nicht dem „normalen Geschäftsgang“ entspricht, liegt auf der Hand; was wird also hier gespielt? Der Europäische Gerichtshof außer Rand und Band?
Dem dahinterliegenden Konflikt, der letztlich seit Jahrzehnten schwelt und hier zu einem Ausbruch gekommen zu sein scheint, kann man sich aus der nationalen Perspektive Deutschlands gut nähern, denn in der „Zentralmacht Europas“ (wie Hans-Peter Schwarz uns 1994 noch optimistisch nannte) sind die Konflikte der allmählichen Überführung des demokratisch verfassten Nationalstaats in eine funktionalistisch-föderale Großraumordnung nicht selten exemplarisch geführt worden. Dies zeigt sich in der rechtlichen Einordnung der „großen Grenzöffnung“ von 2015/16. Der Rekurs auf diese ist hier schon deswegen naheliegend, weil es bei der Entscheidung des EuGH vom 17. Dezember 2020, deren unzureichende Umsetzung Ungarn eben vorgeworfen wird, ebenfalls um das Asylregime ging. Hierzu zunächst noch zwei propädeutische Vorbemerkungen.
(1) Es ist bis in die heutige Zeit strittig geblieben, ob überhaupt von einer „Grenzöffnung“ die Rede sein könne oder solle; die Merkel-Apologeten (so etwa der unbeschreibliche Ruprecht Polenz in seinem neuen Buch) pflegen darauf zu bestehen, es habe ja keine Grenzöffnung gegeben, sondern nur eine Nicht-Schließung der Grenze, da diese im Rahmen des Schengen-Systems ja offen gewesen sei. Dazu ist ganz einfach zu sagen: Es kommt darauf an, ob man den Fall äußerlich-faktisch oder eben rechtlich betrachtet, wobei die entscheidende und richtige Perspektive natürlich die rechtliche ist, denn gerade die Kritiker der Grenzöffnung knüpfen an diese Diagnose ja – zu Recht! – einen Unrechtsvorwurf. Äußerlich-faktisch ist die Grenze zunächst nicht „geöffnet“ worden, weil es, jedenfalls abseits der Grenzübergänge, keine Grenzbefestigung gab. Rein rechtlich ist die Grenze aber sehr wohl geöffnet worden, weil nach dem Grundgesetz (Artikel 16a) sowie nach dem Asylgesetz (§ 18) die klare rechtliche Vorgabe an die Bundespolizei bestand, auf dem Landweg einreisende Asylbewerber, die in Ungarn erstmals die EU betreten und vorher wie nachher mehrere sichere Drittstaaten durchquert hatten, an der Grenze zurückzuweisen. Und dies ist dann auf Weisung der Bundesregierung nicht geschehen. Diese Weisung war also, rein rechtlich gesehen, die „Grenzöffnung“, die durch sie aufgehobene oder gar nicht erst begonnene „Grenzschließung“ folgte ohne besondere Anweisungen unmittelbar aus dem Gesetz. Und dem stand auch das – insofern fragmentarische – unionale Asylrecht (darauf kommen wir noch zurück!) nicht entgegen. Denn aus der Dublin-III-Verordnung folgte eindeutig, dass Ungarn als Ersteinreisestaat für die Durchführung der Asylverfahren zuständig gewesen wäre.
(2) Die Tragik – oder auch die Infamie! – des im Spätsommer 2015 aufgebrochenen asylrechtlichen Konflikts in Europa (den unter anderem Robin Alexander in seinem Buch „Die Getriebenen“ nachgezeichnet hat) lag unter anderem darin, dass Ungarn eigentlich der einzige Mitgliedstaat gewesen ist, der die unionsrechtlichen Asylvorgaben streng einhielt. Die Ungarn ließen den nicht enden wollenden Flüchtlingsstrom, der – angeblich und in den meisten Fällen wohl auch tatsächlich – aus Syrien über die „Balkan-Route“ nach Ungarn gelangte, ungehindert einreisen. Dann allerdings eröffnete man den Leuten (die sich ja in Budapest am Hauptbahnhof sammelten, um unverzüglich nach Deutschland weiterzureisen), sie dürften das Land nicht verlassen, sondern hätten sich in Asyl-Sammelunterkünfte zu begeben, wo sie auch umfassend versorgt werden würden, bis – in Ungarn und nirgendwo sonst – abschließend über ihren Asylantrag entschieden sein würde. Die Asylbewerber erwiderten, sie wollten mit den Ungarn nichts zu tun haben, seien nur auf Durchreise nach Deutschland und man möge sie nicht aufhalten. Dies wollten die Ungarn, die ihre stolze Nation nicht als beliebiges Durchmarschgebiet für Männergruppen aus dem Nahen Osten betrachten und auch übrigens nach dem EU-Recht dazu verpflichtet waren, das Ersteinreiselands-Prinzip der Dublin-III-Verordnung durchzusetzen, sich nicht gefallen, woraufhin es zu den allerdings unschönen Prügelszenen am Budapester Hauptbahnhof kam. Nun zeigte ganz Europa, allen voran die damalige Bundeskanzlerin, mit dem Finger auf die Ungarn (und natürlich deren wenig beliebten Regierungschef Viktor Orbán) und warfen ihnen „Verrat an den Europäischen Werten“ vor. Weil sie versucht hatten, das Europäische Recht durchzusetzen. Und so kam es zur deutschen „Grenzöffnung“, siehe oben. Thilo Sarrazin beklagte in der „Achse des Guten“, Angela Merkel habe die Dublin-III-Verordnung aufgehoben. Ich wies darauf hin, dass die Bundeskanzlerin keine EU-Verordnungen aufheben könne. Wie dem auch sei.
Doch nun zurück zur EuGH-Entscheidung aus 2020, die Ungarn – weswegen es nun eben im Wege des Vertragsverletzungsverfahrens verurteilt worden ist – nicht hinlänglich umgesetzt haben soll. Nachdem die Ungarn die Erfahrung gemacht hatten, dass der Versuch, die unionsrechtlichen Vorgaben buchstabengetreu umzusetzen, nur dazu führt, dass man als barbarischer Feind (inhaltlich etwas unklarer) „europäischer Werte“ beschimpft wird, und der Zustrom über die „Balkan-Route“ aber noch jahrelang anhielt, dachten sie: Nun gut, beschreiten wir dann also neue und eigene Wege angesichts eines erheblichen staatspolitischen Problems, nämlich dem permanenten Überrannt-Werden durch eine „Neue Völkerwanderung“ (abermals Hans-Peter Schwarz, 2018).
Zu diesen Wegen gehörte neben der Einrichtung eines Grenzzauns nach Serbien, um die völlig unkontrollierte Einreise jedenfalls zu vermindern, die Einrichtung von „Transitzonen“ an zwei Grenzorten zu Serbien, Röszke und Tompa, die seitens der Ungarn als „extraterritorial“ definiert wurden (was es ja im Prinzip auch an jedem internationalen Flughafen gibt), in denen die Asylbewerber sich bis zur Entscheidung über ihren Asylantrag aufhalten sollten; die Einreise in die Transitzonen wurde kontrolliert, und diese konnten auch wegen Überfüllung geschlossen werden. Die Kommission strengte ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn an, und Ungarn wurde verurteilt, die Transitzonen zu schließen und wieder die ungehinderte Einreise von Asylbewerbern nach Ungarn im Sinne des Ersteinreiseland-Prinzips sicherzustellen.
Ungarn schloss daraufhin die Transitzonen unverzüglich und versuchte eine neue Politik. Nun sagte man: Wir lassen jeden Asylbewerber einreisen, aber nur, wenn er vorher bei einer ungarischen Botschaft im Ausland einen entsprechenden Antrag gestellt hat und sich in einer Vorprüfung ergeben hat, dass der Asylantrag in Ungarn näher geprüft zu werden verdient! Das heißt, die Ungarn haben versucht, ihr nationales Asylrecht auf „Botschaftsasyl“ umzustellen, was es seit jeher in der Schweiz gegeben hatte (bis 2013) und das in verschiedenen europäischen Staaten als mögliche Abhilfe gegenüber der Migrationsproblematik ebenfalls bereits vorgeschlagen worden ist.
Wird nun gefragt, ob denn das „Botschaftsasyl“ mit den europäischen asylrechtlichen Vorgaben übereinstimmt, so spricht jedenfalls auf den ersten Blick viel dafür. Denn das – wie gesagt, eher fragmentarische – unionale Asylrecht enthält, neben gewissen Minimalvorgaben für den Ablauf des Asylverfahrens, eigentlich hauptsächlich Zuständigkeits- und Fristenregelungen; das materielle Asylrecht, das angewendet wird, ist und bleibt ganz einfach das Asylrecht des Ersteinreisestaates, der eben zuständig ist. Warum soll es da eigentlich unzulässig sein, dass die Ungarn ihr nationales Asylrecht auf Botschaftsasyl umstellen? Wem dies nicht passt, der kann sich ja unter Umständen ein anderes Ersteinreiseland aussuchen, etwa Italien oder Griechenland.
Doch der EuGH – deswegen nun das neue, unvergleichlich drakonische Vertragsverletzungs-Urteil – folgte dieser Argumentation nicht und fand, aus dem Ersteinreiseland-Prinzip der Dublin-III-Verordnung folge auch das Recht auf jederzeitige, unbeschränkte Ersteinreise eines Asylbewerbers nach Ungarn, und zwar auch ohne vorherigen Antrag bei einer Auslandsbotschaft.
Was steckt dahinter? Die deutsche „Grenzöffnung“ führte ja hierzulande bald zu einer hitzigen Diskussion über deren Erlaubtsein und rechtliche Grundlagen. Dabei versuchten die Bundesregierung und ihre zahllosen medialen Unterstützer zunächst den Eindruck zu erwecken, die Bundesrepublik sei zur Gestattung selbst millionenfacher Einreise ganz einfach rechtlich verpflichtet („das Asylrecht des Grundgesetzes kennt keine Obergrenze!“). Da dies völlig unhaltbar war – da eben jedenfalls das nationale Recht eindeutig die Verpflichtung enthielt, auf dem Landweg einreisende Asylbewerber zurückzuweisen, da sich alle bereits in sicheren Drittstaaten befinden –, wurde das Narrativ ab 2016 erheblich umgestellt. Nun hieß es, das Unionsrecht verpflichte nicht, aber erlaube der Bundesrepublik entgegen dem nationalen Recht die Gestattung der Einreise („Selbsteintrittsrecht“). Auch das hat natürlich nicht gestimmt, denn es gibt zwar die Möglichkeit von Staaten, sich einseitig für ein oder mehrere Asylverfahren für zuständig zu erklären, aber dies betrifft natürlich immer nur klar identifizierte Einzelfälle, nicht Menschenmassen unklarer Identität und Herkunft.
Erst ab 2018 popularisierte der Konstanzer Ausländerrechtler Daniel Thym das bis heute „gültige“ Rechtsnarrativ. Dieses geht so: Das gesamte nationale Asylrecht, also vor allem diejenigen Vorschriften, die Zurückweisung an der Grenze gebieten, sei heute eigentlich nicht mehr anwendbar. Denn alles sei längst europarechtlich „überlagert“ und der Rechtsfall eigentlich nur noch nach europarechtlichen Vorschriften zu lösen. Und aus diesen folge wiederum, dass ein Asylbewerber, der zum Beispiel aus Österreich nach Deutschland kommt, erst einmal eingelassen werden muss, um zu klären, welches denn das eigentlich zuständige Ersteinreiseland sei.
Dabei bleibt erstens unklar, warum diese Klärung eben nicht zum Beispiel auch in Österreich stattfinden kann, wo der auf dem Landweg einreisen wollende Asylbewerber sich bereits befindet. Und zweitens ist diese Anleitung ein „trojanisches Pferd“, denn die Dublin-III-Verordnung sieht auch vor, dass die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens bei nicht rechtzeitiger Zurückschiebung in das Ersteinreiseland (gegen die stets zahlreiche rechtliche Einwände bestehen!) auf das Aufenthaltsland übergeht. Wiederum Thilo Sarrazin, wiederum in der „Achse des Guten“, nannte Thym daraufhin „Professor Unfug“.
Für die Richtigkeit dieses Urteils spricht immerhin, dass Thyms Modell, das inzwischen der „herrschenden Meinung“ in der ausländerrechtlichen (nicht unbedingt aber der verfassungsrechtlichen!) Kommentarliteratur entspricht, nach herkömmlichen europarechtlichen Maßstäben rechtlich nicht richtig ist. Denn nach diesen herkömmlichen Maßstäben gibt es freilich einen „Anwendungsvorrang des Unionsrechts“ gegenüber dem nationalen Recht (auch regelmäßig dem nationalen Verfassungsrecht, wobei aber die Einzelheiten umstritten sind und hier nicht weiterverfolgt werden können). Dies jedoch nur, wenn im Einzelfall ein Gegensatz zum nationalem Recht besteht. Und dieser bestand hier nicht, da das Abweisungsgebot im Hinblick auf Asylbewerber, die aus sicheren Drittstaaten einreisen wollen, nicht im Gegensatz zum Ersteinreiselands-Prinzip steht, sondern vielmehr wesentlich zu dessen Umsetzung beiträgt. Können und dürfen Asylbewerber in Europa herumreisen und überall einreisen, kann das Ersteinreiselands-Prinzip ja gar nicht umgesetzt werden!
Unter der Hand versuchen Thym und seine Mitstreiter nämlich, eine neue Methodik des Anwendungsvorrangs zu etablieren, die nunmehr dem Leitsatz folgt: Das nationale Recht ist von Anfang an nicht mehr heranzuziehen, wenn dieselbe Materie auch auf europäischer Ebene irgendwie geregelt ist – auf einen konkreten Gegensatz im Einzelfall kommt es gar nicht an! Und genau dieses Denken steht auch hinter der jetzigen Entscheidung des EuGH, der die Einführung des Botschaftsasyls in Ungarn – ohne irgendeinen klaren Anhalt im europarechtlichen Rechtstext – für verboten erklärt. Nach bisherigen Maßstäben wäre die Einführung des Botschaftsasyls in Ungarn allemal erlaubt, so lange es nach dem Unionsrecht nicht verboten ist. Nun soll es offenbar als verboten gelten, weil die unionalen Regeln es nicht ausdrücklich vorsehen. Eine „Revolution von oben“ durch den EuGH.
Hinter den hier beschriebenen Auslegungskonflikten steht dabei die eigentlich fundamentale Frage des Unionsrechts überhaupt, nämlich: Kommt die Geltung des europäischen Rechts über die „Brücke“ der nationalen Zustimmungsgesetze zu den europäischen Verträgen ins nationale Recht, wobei die Völker Europas jeweils die Träger ihres nationalen Selbstbestimmungsrechts bleiben und die Staaten Teile ihrer Souveränität zur Ausübung der europäischen Union (rückholbar!) überlassen – oder aber ist die Union inzwischen „souverän“ und gewährt ihren Mitgliedstaaten wie Bürgern gewisse Mitwirkungs- und Teilhaberechte im Rahmen ihrer nun einmal bestehenden Rechtsordnung? Der EuGH wie die „fortschrittlichen“ deutschen Anpassungsprofessoren meinen jedenfalls letzteres. Wie leise heute Revolutionen sind!