Tichys Einblick
Deindustrialisierung

Bye-bye, BASF

BASF ist eine Industrie-Legende mit existenzieller Bedeutung für ganz Deutschland. Im 19. Jahrhundert gegründet, überstand das Unternehmen Wirtschaftskrisen und Weltkriege. Die hohen deutschen Energiekosten überfordern es nun. In China baut der Konzern nun das „zweite Ludwigshafen“. Von Jörg Schierholz

IMAGO / imagebroker

Friedrich Engelhorn, Eigentümer einer Leuchtgasfabrik in Mannheim, startete 1861 die Produktion der Farbstoffe Fuchsin und Anilin mit aus Steinkohlenteer gewonnenen Ausgangsstoffen. Vier Jahre später gründete er in Mannheim eine Aktiengesellschaft, die Badische Anilin- & Sodafabrik, und ließ das Stammwerk auf der gegenüberliegen Rheinseite in Ludwigshafen errichten.

Der Aufbau der Produktion gemäß neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen und hohe Investitionen in eigene Forschungsabteilungen führten binnen weniger Jahrzehnte zur Weltmarktführerschaft bei Kunstfasern, ersten Plastikstoffen und Kunstdünger. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der gesamte Auslandsbesitz enteignet, samt Patenten und Produktionsverfahren. Mitte der 1920er fusionierten BASF, Hoechst, Bayer, Griesheim und Weilerter Meer zur Interessen-Gemeinschaft Farbenindustrie AG (IG Farben), die mit der neuen Struktur die Weltwirtschaftskrise 1929 überstand.

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurden die IG-Farben-Werke enteignet und 1952 die Kernstücke BASF, Bayer, Hoechst und die Chemischen Werke Hüls ausgegliedert. Die Dynamit AG kam zu Flicks Feldmühle, während die Titangesellschaft in die Hände der amerikanischen National Lead Co. geriet. Aber schon in diesem Jahr erreichte die deutsche Chemie mit ihrer Produktionsleistung den Vorkriegsstand, und es begann der fulminante Wiederaufstieg.

Im Jahr 1965 hatte die BASF bereits wieder 56.000 Mitarbeiter und war in vielen Bereichen – wieder – Weltmarktführer. In den mehr als 50 Auslandsstandorten befinden sich heute die Geschäftsfelder Kunststoffe, Chemikalien, Pflanzenschutzmittel, Ernährung, Farben, Reinigungsmittel sowie bis vor Kurzen mit der Tochter Wintershall die Sparten Öl und Gas. Ende 2023 beschäftigte BASF mehr als 111.000 Mitarbeiter bei gleichzeitiger Verabschiedung von Teilen der Ludwigshafener Belegschaft und einem hohen Personalaufbau in der Region Asien-Pazifik, vor allem für den neuen chinesischen Verbundstandort Zhanjiang.

Dort entsteht mit einem Investitionsvolumen von mehr als zehn Milliarden Euro derzeit das „zweite Ludwigshafen“, das Ludwigshafen ablösen wird: mit rund 38.500 Beschäftigten auf einer Fläche von zehn Quadratkilometern bislang der größte Chemieverbundstandort der Welt. Hier sind mehr als hundert unterschiedlich große Chemiefabriken durch nahezu 3000 Kilometer Rohrleitungen verbunden und aufeinander abgestimmt. Beispielsweise geben Fabriken, in denen aufgrund exothermer Reaktionen Energie frei wird, diese in Form von Dampf an andere Anlagen ab, die Energie verbrauchen, weil dort endotherme Reaktionen ablaufen.

45.000 Produkte aus Ludwigshafen

Dieser engmaschige Verbund sorgt durch energetische Synergien und ausgeklügelte Logistik für niedrige Fixkosten und eine Produktionsvielfalt, die es sonst nirgendwo auf der Welt gibt. Bislang war das Ludwigshafen, wo immerhin mehr als 45.000 Produkte hergestellt werden. Dieses über einhundert Jahre aufgebaute Know- how wird nun nach China transferiert.

Nach dem wirtschaftlichen Einbruch im Zuge der Corona-Pandemie und massiven Preisschüben für Gas und Energie leidet die deutsche Chemieindustrie auch in diesem Jahr unter schwacher Nachfrage, steigenden Kosten sowie einer Vielzahl neuer Gesetze, industriefeindlicher Regulierung und einer überbordenden Bürokratie. Wie Klaus-Peter Stiller, Hauptgeschäftsführer des Bundesarbeitgeberverbands Chemie (BAVC), beklagt, steckt die von ihm vertretene Branche in der tiefsten Krise seit Bestehen der Bundesrepublik. Derzeit produzieren die Unternehmen so wenig wie zuletzt im Jahr 2005.

Der Ausstieg aus den russischen Erdgaslieferungen ist für viele Chemieunternehmen, besonders jedoch für den BASF-Standort Ludwigshafen, fatal. Denn Erdgas hat, nicht nur bei der Erzeugung von Wärmeenergie, Erdöl als essenziellen Rohstoff zu wesentlichen Teilen verdrängt. Das preiswerte russische Gas fehlt nun. Die Flüssiggasimporte können da preislich nicht mithalten. Zudem sind sie in erster Linie für die Stromerzeugung reserviert, nicht zuletzt weil die Kernkraft aus Deutschland verbannt wurde.

Tatsächlich sind heute viele Anlagen nur noch zur Hälfte ausgelastet. Viel zu wenig, um auch nur die Kosten einzuspielen. Ein Konzern, der gigantische 24 Terawattstunden Erdgas im Jahr als Rohstoff oder zur Strom- oder Dampferzeugung benötigt, ringt, ähnlich wie die gesamte energieintensive Industrie in Deutschland, um die Existenz.

Abschied von der eigenen Geschichte

Mehr als 150 Jahre nach der Gründung stellt sich die Frage: Sind wir Zeitzeugen, wie Europas größter Chemiekonzern seiner Heimat Deutschland still und leise den Rücken kehrt? Wie viel Chemieindustrie wird es in zehn oder 20 Jahren noch in Deutschland geben? Die BASF-Hauptverwaltung war seit 1957 das Wahrzeichen des Produktionsstandorts und bis 1962 sogar das höchste Bürogebäude Deutschlands, wurde aber 2014 als „Problemfall“ eingestuft, nicht saniert und abgerissen. Ein Vorbote des Niedergangs?

Nun trennt sich BASF nicht mehr nur von Büroflächen, sondern im großen Stil von etlichen hochmodernen Produktionsanlagen – für Ammoniak, Methanol und Melamin. Insgesamt werden elf Anlagen am Stammwerk verkauft und umgesiedelt. Es sind Anlagen im Weltmaßstab, die höchsten Umweltstandards entsprechen. Der Verkauf der Anlagen und die Organisation von deren Umsiedelung wird von der Firma International Process Plants (IPP) durchgeführt.

Die gesamte energie­intensive Industrie in Deutschland ringt um ihre Existenz

IPP verkauft Fabriken an Unternehmen, die ihre Produktionskapazitäten an günstigeren Standorten erweitern wollen. Die Industrieanlagen werden abgebaut, verpackt und anderswo wieder aufgebaut. „Wir freuen uns, diese Weltklasseanlagen in unser Portfolio aufzunehmen“, erklärte IPP-President Ronald Gale. „Sie bieten signifikante Chancen für Firmen, die bestehende Produktionskapazitäten mit hocheffizienten Anlagen ausbauen möchten.“

Rüdiger von Watzdorf, Senior Vice President Technology bei BASF, begründet die Veräußerung wie folgt: „Der Verkauf dieser Anlagen bietet eine nachhaltigere und wirtschaftlichere Lösung für den Einsatz dieser Produktionsmittel und bringt der globalen Prozessindustrie erhebliche Vorteile.“ Die neuen Standorte sollen dafür sorgen, dass die Anlagen entweder im Rahmen von umweltfreundlichen Ammoniak- oder Methanolprojekten oder an Orten mit kosteneffektiver sowie ausreichender Gasversorgung weiterhin produktiv genutzt werden können.

Zwei Tage vor Heiligabend 2023 hatte der scheidende BASF-Vorstandschef Martin Brudermüller die rund 3000 Beschäftigten mit der Mitteilung überrascht, der Verkauf der Konzerntochter Wintershall Dea an den britischen Ölkonzern Harbour Energy sei beschlossene Sache, ebenso die vollständige Schließung der beiden Verwaltungen in Hamburg und Kassel, vorbehaltlich der Prüfung außenwirtschaftlicher und kartellrechtlicher Kriterien durch die Bundesregierung. Die Vereinbarung der BASF mit Harbour Energy sieht vor, dass die Briten das Produktions- und Entwicklungsgeschäft sowie die Explorationsrechte in Norwegen, Argentinien, Deutschland, Mexiko, Algerien, Libyen, Ägypten und Dänemark übertragen bekommen. Des Weiteren erhält der Konzern die Lizenzen zur Abscheidung und Speicherung von Kohlendioxid.

Problematischer Verkauf

Der geplante Verkauf an ein Nicht-EU-Land kollidiert eigentlich mit den jüngst verschärften Regeln der deutschen Außenwirtschaftsverordnung, die einseitige Abhängigkeiten verhindern soll. Ein Gutachten der Frankfurter Wirtschaftskanzlei Schalast, beauftragt von der Stiftung Clean Energy Forum (CEF), ein Thinktank mit Ex-EU-Kommissar Günther Oettinger sowie dem Geschäftsführer des Bundesverbands Erneuerbare Energie (BEE), Wolfram Axthelm, an der Spitze, kritisiert den geplanten Verkauf wegen des Verlusts von Know-how über Verfahren zur Abscheidung und Speicherung von CO2 sowie möglicher sicherheitsrelevanter Auswirkungen. Wintershall betreibe kritische Infrastruktur wie beispielsweise Gasförderanlagen. „Klimaneutralität und die Zukunftsfähigkeit der deutschen Industrie können folglich nicht erreicht werden“, wenn die CCS-Technologie nicht zur Verfügung stehe. „Damit bestehen gute Gründe, um eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu bejahen“, schreiben die Gutachter gemäß „Handelsblatt“. Der Verkauf von Wintershall DEA wurde dennoch von der Bundesregierung genehmigt und im September abgeschlossen.

Im Rahmen der Neuausrichtung von BASF sollen drei weitere Segmente aus dem Verbund herausgelöst und als eigenständige Unternehmen innerhalb der BASF-Gruppe individuell geführt werden. Dies sind das Geschäft mit Saatgut und Pflanzenschutz, die Batteriechemie und die Lacksparte (Coatings). Der Bereich Agrarchemie mit einem Umsatz von rund zehn Milliarden Euro und einem möglichen Börsenwert von mehr als 20 Milliarden Euro umfasst Pflanzenschutzmittel wie Herbizide und Fungizide; das Coating-Geschäft mit 4,4 Milliarden Euro Umsatz beinhaltet Oberflächenbehandlungen zum Schutz vor Korrosion, Lacke sowie Dekorfarben, und die dritte Sparte Batteriechemie fokussiert die Entwicklung von Kathodenmaterialien für Lithium-Ionen-Batterien.

In diesem Bereich wollte die BASF bis 2030 weltweit führend sein, mit prognostizierten Wundermargen von 30 Prozent. Allerdings brach aufgrund der Kürzung staatlicher Kaufsubventionen die Nachfrage nach E-Autos in vielen wichtigen EU-Märkten drastisch ein. Projekte wie die Metallraffinerie für Batterierecycling am spanischen BASF-Standort Tarragona und die geplante Produktionsanlage für Nickel-Kobalt – gemeinsam mit dem Bergbaukonzern Eramet – müssen pausieren.

China ist der größte Markt und auch größter Produktionsort der Welt für chemische Erzeugnisse. BASF sieht in Asien das Wachstum, das in Europa und auch in den USA nicht mehr zu erzielen ist. Der Aufbau des neuen Stammwerks in Südchina ist jedoch ein riskanter Balanceakt. Die USA müssen beschwichtigt und die chinesische Regierung darf nicht allzu sehr brüskiert werden. Die Diktaturen von Moskau und Peking sind enge Verbündete und erklärter Gegenpol der westlichen Welt.

Deutschland wiederum ist fest im transatlantischen Bündnis verankert. Daher hat sich BASF nach lautem öffentlichem Protest dazu durchringen können, die Provinz Xinjiang zu verlassen, in der die ethnische Minderheit der Uiguren zur Zwangsarbeit gezwungen wird.

Verlust geistigen Eigentums

Die Preisgabe von Firmengeheimnissen in der Zusammenarbeit mit chinesischen Akteuren und der mögliche Diebstahl geistigen Eigentums sind bei diesem Investment wohl mit einkalkuliert, so wie bei vielen anderen deutschen Unternehmen in China. Einkalkuliert ist wohl auch das Risiko eines Totalverlusts des China-Geschäfts bei einem möglichen Angriff Chinas auf Taiwan. Wie der Vorstandsvorsitzende auf einer Bilanzpressekonferenz im Februar erklärte, wäre das Risiko eines Verzichts auf China größer als das Risiko eines dortigen BASF-Engagements, und China habe bereits im vergangenen Jahr 2023 – und nicht erst 2030, wie erwartet – mehr als die Hälfte der weltweiten Chemieproduktion vereint.

Unverständlich ist, dass der harte Realitätsschock der grünen Degrowth-Politik den studierten Chemiker Brudermüller so spät, erst kurz vor seinem Ausscheiden, ereilt hat. Früher hatte er sogar im wirtschaftspolitischen Beirat der Grünen gesessen und wurde als „Vorbild für andere Manager“ bezeichnet.

Noch zu Beginn der Ampelkoalition im November 2021 strotzte Brudermüller vor Optimismus: „Bemerkenswert sind Geschwindigkeit und Geschlossenheit, mit der die drei Parteien eine Vereinbarung erzielt haben. Das ist ein ermutigendes Zeichen.“

Bei der Durchsetzung der Klima-Agenda inklusive Stilllegung der stabilen Stromlieferungen aus der Atomindustrie, Importverbot russischen Gases und Erdöls, bei den Chemierichtlinien, beim Lieferkettengesetz und den Unternehmensteuern wurde von der Politik gleichwohl kein Pardon gegeben und der stille Abschied der BASF wohl billigend in Kauf genommen.

Kurz vor seiner Pensionierung änderte Brudermüller dann seine Meinung und wurde durchaus sehr deutlich: „Die Wirtschaft dringt mit ihren Sorgen und Rufen in der Bundesregierung nicht mehr durch.“ Apropos, Brudermüllers Vorgänger Kurt Bock hatte bei seinem Abgang 2018 deutlich gemacht: „Auch 2050 werden wir noch eine Chemie haben, die auf Öl und Gas basiert.“ Das wollte die Politik allerdings nicht hören und tut alles, um dies zu verunmöglichen.

Die Umwälzungen in der deutschen Chemieindustrie sind in ihren Auswirkungen deutlich nachhaltiger als der vor 20 Jahren in Kauf genommene Untergang des Weltunternehmen Hoechst mit seinen damals 160.000 Mitarbeitern. Die Neustrukturierung der BASF wird das hoch verschuldete, unter explodierenden Sozialausgaben leidende Ludwigshafen an den Rand des Abgrunds bringen und die gesamte Wirtschaft und Gesellschaft der Region zwischen Worms und Karlsruhe, zwischen Heidelberg und Kaiserslautern erschüttern. Das in 150 Jahren gewachsene Meisterwerk in Ludwigshafen, das Generationen von Menschen Arbeit und Einkommen, den Städten und Kommunen Wohlstand verschaffte, steht jetzt vor dem Ende.

Abstiegsagenda mit fünf Säulen

Der Vorsitzende der New Yorker Investmentfirma Rockefeller International, Ruchir Sharma, kommt in seinem Buch „What Went Wrong With Capitalism“ (2024) zu folgenden Befund: „Obwohl das Pro-Kopf-Einkommen vor ein paar Jahrzehnten ähnlich war, ist die Wirtschaft seit 2010 in den USA doppelt so schnell gewachsen wie in den vier größten Volkswirtschaften der EU – Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien.“ Der Autor stellt die unbequeme Frage: „Warum fällt Europa zurück?“

Die Antwort auf diese Schlüsselfrage ist die Abstiegsagenda, deren fünf Säulen in ihrer Gleichzeitigkeit und synergistischen Wirkung für Europas Wohlstand toxisch sind.

Erstens geht die Erreichung der ökologischen Ziele in der Klimapolitik zwangsläufig mit einer massiven Wohlstandsminderung einher. Zweitens wird die Deindustrialisierung als Teil der „grünen Transformation“ in Kauf genommen. Drittens wird private Wertschöpfung durch staatliche Aktivität ersetzt. Viertens glätten Regierungen den Konjunkturzyklus mit Steuergeld. Und fünftens engen hohe Steuern und Staatsschulden den privaten Spielraum ein.

Die Grünen können sich rühmen, langsam das Ziel ihrer Politik erreicht zu haben.

Klimaminister Robert Habeck äußerte auf dem grünen Parteitag 2022 in Bonn: „Wir lehnen Nordstream ab. Wir nehmen die Erderwärmung ernst und wollen aussteigen aus den fossilen Energien und zerstören damit fossile Geschäftsmodelle.“ Dieses Deutschland ist ein Vorbild, dem weltweit niemand folgt.

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