Postfaktisch: Kampfbegriff der Linken?

Wo algorithmische Heinzelmännchen via Google Myriaden von Fakten sortiert zur Verfügung stellen, herrschen keine postfaktischen Zeiten. Oder nur für jene, die sich von Hinz und Kunz um die Deutungshoheit dieser Fakten betrogen fühlen.

Screenshot ARD
Politiker und Journalisten sagen den Leuten nicht, was ist, sondern wie sie's sehen sollen.

Vor ein paar Tagen gab es das Triple in der Tagesschau. Erst verwendete die Nachrichtensprecherin den Begriff „postfaktisch“, dann der Off-Kommentar eines Einspielers und zuletzt der Sprecher des nachgeschalteten Kommentars. Nein, niemand will hinterm Berg halten, wenn die politische Debatte ein neues Deutungspuzzleteil in einer an Deutung so armen Zeit bekommt.

Meine Oma fuhr mit uns mal zu McDonalds, sie wollte wohl modern sein. Als wir aber sahen, wie sie ihren Burger in die noch übriggebliebenen Saucenschälchen ihrer aufgegessenen Chicken McNuggets tunkte, wollten die Kinder sie partout nie mehr mitnehmen. Es war ihnen peinlich. Was ich damit sagen will: Wer jede Neuerung mitmacht, begibt sich auf dünnes Eis. So ist auch der Begriff „postfaktisch“ ein Burgertunken in Süßsauer, denn natürlich leben wir nicht in einer an Deutung armen Zeit, nicht in einer Zeit der Faktenlosigkeit. Das genaue Gegenteil ist der Fall.

Die an Fakten reichsten Zeiten der Menschheitsgeschichte

Timo Frasch hat sich des Postfaktischen schon in der FAZ angenommen. Der Rheinland-Pfalz-Korrespondent der Zeitung ist dabei glänzend gescheitert. Zwar mag auch er kein postfaktisches Zeitalter erkennen, begründet das aber damit, dass wir uns in der bisherigen Weltgeschichte kaum je um Fakten geschert hätten. Nun leben wir allerdings heute in der an Fakten reichsten Zeit der Menschheitsgeschichte. Das wissen insbesondere Journalisten, die nicht einmal mehr auf die Straße zu gehen brauchen, weil alle Fakten im Netz bereits von der Straße selbst verfügbar gemacht wurden.

Das Problem ist etwas ganz anderes: Es ist besagte Quantität der so generierten Fakten, über die Journalisten stolpern. Da nutzt die ganze Ausbildung nichts mehr, wenn Hinz und Kunz  gleichsam aus demselben sprudelnden Faktenfüllhorn schöpfen und ihre so generierten Texte jederzeit online stellen können. Der Investigativ-Journalismus ist heute faktisch (sic!) tot.

Aber schauen wir mal, ob der Selbstversuch die These bestätigt. Nehmen wir ein x-beliebiges aktuelles Thema, geben wir beispielsweise den Begriff „Klimakatastrophe“ ins Google-Suchfenster ein: Wir erhalten in 0,40 Sekunden sage und schreibe 195.000 Einträge. Und die sind bereits von den algorithmischen Heinzelmännchen nach bestimmten Relevanzkriterien wie Abrufhäufigkeiten usw. sortiert.

Wir erhalten also im Bruchteil einer Sekunde unzählige Möglichkeiten, verschiedene Fakten und Interpretationen dieser Fakten zu verschiedenen Wahrheiten miteinander zu vergleichen, um uns ein eigenes Bild zu machen. Aber auch das muss man lernen, eigentlich müsste dieser komplizierte Vorgang Pflichtfach an allen deutschen Schulen werden: Deutsch, Mathe, Englisch und: Google!

Schmerzhafter Verlust der Deutungshoheit

Der Selbstversuch gelingt mit fast jedem anderen debattentauglichen Begriff. Wie ist also nochmal die Faktenlage? Überaus üppig. Wo liegt dann also das Problem? Ganz einfach, bestimmte seriös geltende, allgemeine anerkannte Gruppen haben ihre angestammte Hoheit über die Einordnung und Deutung dieser Fakten verloren. Ganz vorne mit dabei die Leitmedien, denen immer weniger Menschen Ihr Vertrauen aussprechen, wie das NDR-Medienmagazin ZAPP jüngst herausgefunden haben will. Es hätte sich nun eine Gegenöffentlichkeit im Internet etabliert. „Viele geteilte Berichte und Posts erlangen schnell Wahrheits-Status, auch wenn sie sich später als unhaltbare Gerüchte herausstellen.“

Klingt merkwürdig, wenn man gleichzeitig feststellt, dass Fehler in der Berichterstattung der Massenmedien heute viel schneller aufgedeckt und häufig gnadenlos an den Pranger gestellt werden. Das Postfaktische ergibt sich hier also wenn überhaupt, dann aus der Konkurrenz einer Anzahl von Wahrheiten. Na und? Seit wann spricht die unterschiedliche Interpretation von Fakten gegen die Fakten selbst? Das wünschen sich nur ängstliche ideenlose Leute, die eine Sehnsucht nach maximaler Transzendenz umtreibt, nach unumstößlichen Wahrheiten verpackt in einfachen Glaubenssätzen. Komische Leute.

Womit wir bei den Religionen wären. Das düstere Mittelalter als präfaktisches Zeitalter. Dann kam die Mobilitätserfindungen, die Vermessung der Welt, die so glanzvoll überbordende Renaissance, die Entdeckung Amerikas und die Aufklärung mit einem Füllhorn an Fakten, die geeignet waren, althergebrachten Glauben zu zerstören – oder positiver ausgedrückt, zu ersetzen durch Wissen. Neutrales an Fakten reiches Wissen, das nun offen da lag, das überhaupt erst jene Debatten eröffnete, die diskutierten, was nun damit anzufangen sei, wie dieses Wissen der gesamten Menschheit von Nutzen sein könnte.

Politik ist nicht Wahrheit oder Sittlichkeit, sondern Macht

Für Fritz Goergen, Tichys-Einblicke-Kolumnist steht post-faktisch als Ausrede für etwas nicht mehr durchschauen, sich überfordert fühlen. Für die Überhöhung der Inkompetenz durch ein Schwurbelwort. „Früher nannten wir das ein Wiesel-Wort“, schreibt der Kommunikationsexperte per Email aus Tirol.

Der Autor Ingo Niermann meldet sich aus Basel zu Wort: Für ihn ist die Behauptung, wir würden in postfaktischen Zeiten leben „Blödsinn.“ Politiker hätten schon immer gelogen. „Und immer wieder fallen Leute gern darauf herein. Man denke hier nur an Obamas ‚Change‘, der jetzt den Millennials auf die Füße fällt.“ Für Ingo Niermann gehört einer wie der Gesellschaftstheoretiker Niklas Luhmann zu den klarsten Denkern unseres Zeitalters: „Für ihn operiert jedes gesellschaftliche Subsystem (Recht, Ehe, Religion…) mit einer zentralen Instanz. Und die von Politik ist eben nicht Wahrheit oder Sittlichkeit, sondern Macht. Die Aufgabe des Journalismus ist für Luhmann Neuigkeit – und eben nicht Wahrheit.“

Aber würden wir uns nun wünschen, in machtlosen Zeiten zu leben? In postmachtischen (Wortschöpfung bitte gleich wieder vergessen!) Zeiten? Vielleicht der größte Menschheitstraum schlechthin – jedenfalls dann, wenn es um den Verlust von Macht geht, die andere über einen haben.

Aber um es positiv zu beenden, dieser Machtverlust des Establishments, der Politik und der Leitmedien reißt ja eine klaffende Lücke. Oder schafft Platz für einen großen Spielplatz, je nach Sichtweise. Und wie spannend wäre das denn nun, man hätte die Kraft, diese Lücke einfach frei zu lassen? Man würde der Machtlosigkeit Raum geben und der Gentrifizierung des freien Gedankens entgegenwirken. Ein mächtiger Gedanke. So könnten Denkräume für alle entstehen. Aber wie sollte nun ausgerechnet auf einer Utopie das Präfaktische Zeitalter 2.0 erwachsen? Lassen wir es drauf ankommen. Verzichten wir auf die Deutungshoheit anderer – an der objektiven Faktenlage ändert das ja nichts.

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